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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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verzögerte sich durch so übertriebene wie auch heimliche Nachforschungen über ihre Eltern bei KZ-Überlebenden  – , ist das oft erschütternd, und Sarah erweist sich als ein Mensch von leidvoller Sensibilität, arglos und scharfsinnig zugleich. Das neurotische Grundmuster, nach dem ihre Kindheit verläuft, steht für die Schuldgefühle der Überlebenden bis hin zum Gefühl der Unwürdigkeit, das man bei vielen Waisen vorfindet; sie interpretieren »die Abreise« ihrer Eltern unbewusst als Beweis dafür, dass sie nichtswürdige Kinder waren.
    Bei dieser Analyse der Gesamtumstände muss berücksichtigt werden, dass möglicherweise genetische Faktoren, die wir nicht untersuchen können, zu Sarahs Erkrankung beigetragen haben. Wir empfehlen daher eine sorgfältige Überprüfung der direkten Nachkommen der Patientin, bei denen depressive Symptome durch morbide Fixierungen und obsessionelles Verhalten zu fürchten stehen. […]
    Frantz kam mitten in der Nacht zurück. Sophie ist aufgewacht, als sie die Tür gehört hat; sofort ist sie wieder in diesen vorgeblichen Schlaf gefallen, den sie mittlerweile so gut beherrscht. Am Geräusch seiner Schritte in der Wohnung und an der Art und Weise, wie er die Kühlschranktür zugeschlagen hat, merkte sie, dass er sehr aufgeregt war.Er, der normalerweise die Ruhe selbst ist … Sie sah seine Umrisse in der Schlafzimmertür. Dann kam er zum Bett, kniete sich hin. Strich ihr übers Haar. Er wirkte nachdenklich. Anstatt sich trotz der späten Stunde hinzulegen, ging er wieder ins Wohnzimmer und in die Küche. Sie glaubte, Papier rascheln zu hören, als würde er einen Umschlag öffnen. Dann nichts mehr. Er kam die ganze Nacht lang nicht ins Bett. Am Morgen fand sie ihn auf einem Küchenstuhl mit wirrem Blick. Wieder ähnelt er auf erschreckende Weise Sarah auf dem Foto, er wirkt nur noch verzweifelter. Als wäre er plötzlich um zehn Jahre gealtert. Er hat lediglich den Blick gehoben und durch sie hindurchgeschaut.
    Â»Bist du krank?«, fragte Sophie.
    Sie raffte ihren Bademantel am Kragen. Frantz gab keine Antwort. So saßen sie eine ganze Weile da. Komischerweise hatte Sophie das Gefühl, dass dieses so neue, so unerwartete Schweigen die erste wirkliche Kommunikation zwischen ihnen war, seit sie sich kannten. Sie hätte nicht sagen können, woher das kam. Der Tag brach durchs Küchenfenster herein, das Licht fiel auf Frantz’ Füße.
    Â»Warst du weg?«, fragte Sophie.
    Er starrte auf seine schlammverspritzten Füße, als würden sie ihm nicht gehören.
    Â»Ja … das heißt eigentlich nicht …«
    Ganz eindeutig lief da etwas nicht rund. Sophie ging zu ihm, zwang sich, die Hand auf Frantz’ Nacken zu legen. Diese Berührung stieß sie ab, aber sie hielt durch. Dann setzte sie Teewasser auf.
    Â»Willst du Tee?«
    Â»Nein … oder doch …«
    Merkwürdige Atmosphäre. Als würde sie aus der Dunkelheit herausfinden und er hineintauchen.
    Er ist kreidebleich, sagt nur: »Ich fühle mich nicht so gut.« Seit zwei Tagen isst er nur sehr wenig. Sie rät ihm zu Milchprodukten: Er isst drei Joghurts, die sie ihm sorgsam serviert, trinkt Tee. Danach sitzt er am Tisch und starrt auf das Wachstuch. Er grübelt. Ihr macht das Angst, diese düstere Miene. Er sitzt lange da, gedankenverloren. Dann fängt er an zu weinen. Einfach so. Aus seinem Gesicht spricht kein Leid, die Tränen laufen herunter und fallen auf das Wachstuch. Seit zwei Tagen.
    Er wischt sich linkisch die Augen, dann sagt er: »Ich bin krank.« Seine Stimme ist schwach, zittrig.
    Â»Vielleicht eine Grippe …«, antwortet Sophie.
    Einer dieser blöden Sätze – Tränen einer Grippe zuzuschreiben! Aber dass er weint, kommt so unerwartet …
    Â»Leg dich hin«, sagt sie dann, »ich mache dir etwas Heißes.«
    Er murmelt so etwas wie: »Ja, ist gut …«, aber sie ist sich nicht sicher. Es herrscht eine komische Stimmung. Er steht auf, dreht sich um, geht ins Schlafzimmer und legt sich angezogen aufs Bett. Sie kocht Tee. Die ideale Gelegenheit. Sie sieht nach, ob Frantz noch immer da liegt, dann öffnet sie die Klappe des Müllschluckers.
    Sie lächelt nicht, aber sie verspürt eine tiefe Erleichterung. Nun kehrt sich die Dynamik um. Das Schicksal hat ihr geholfen,

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