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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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Karton um, der ihn interessiert. Er ist hinten lediglich zusammengeklebt. Mit einem Teppichmesser kann er die vier Klappen des Wellpappekartons leicht lösen. Nun steht er vor einem eindrucksvollen Stapel Aktenmappen. Er zieht aufs Geratewohl eine heraus: Gravetier. Der Name ist mit Filzstift in Großbuchstaben auf die Mappe geschrieben. Er steckt sie wieder zurück in den Karton. Er nimmt mehrere Akten heraus und spürt, dass er der Erlösung näher kommt. Baland, Baruk, Belais, Benard. Berg! Eine orangefarbene Aktenmappe, die Buchstaben, auch hier Großbuchstaben, wurden von derselben Hand geschrieben. Die Akte ist sehr dünn. Hektisch schlägt er sie auf. Nur drei Blätter liegen darin. Das erste ist mit »Klinische Bilanz« auf den Namen »Berg, Sarah« überschrieben. Das zweite ist nur eine einfache Notiz mit Sarahs Personalien für die Verwaltung, das dritte Blatt enthält Medikamentenindikationen, handschriftlich und größtenteils unleserlich. Frantz nimmt das Blatt mit der klinischen Untersuchung heraus, faltet es zweimal und steckt es unter sein Hemd. Er räumt die Akte wieder an ihren Platz, dreht den Karton um, bringt ein paar Kleckse extrastarken Klebstoff unter den Klappen an und stellt den Karton verschlossen zurück. Gleich darauf klettert er wieder durchs Fenster und springt in den Garten. Knapp eine Viertelstunde später ist er auf der Autobahn und achtet darauf, die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht zu überschreiten.
    Kaum war Sophie durch die Tür, bekam sie es auch gleich mit der Angst zu tun. Immerhin weiß sie, wer Frantz ist. Aber der Anblick, den sein Keller bietet … – als würde sie sein Unterbewusstsein betreten. Die Wände hängen voll mit Fotos. Ihr treten sofort Tränen in die Augen. Eine schrecklicheVerzweiflung überkommt sie, als ihr Blick auf die vergrößerten Porträts von Vincent fällt, sein schönes, so trauriges Gesicht. Dort sind vier Jahre ihres Lebens versammelt. Sie, auf einem Spaziergang (wo war das?), große Farbabzüge von Fotos, die in Griechenland aufgenommen wurden und die sie unter so beschämenden Umständen ihre Stelle bei Percy’s gekostet haben … Wieder sie, wie sie aus einem Supermarkt kommt, das war 2001; hier das Haus im Oise … Sophie beißt sich in die Faust. Sie würde am liebsten schreien, diesen Keller, dieses Haus, die ganze Welt in die Luft jagen. Wieder einmal fühlt sie sich vergewaltigt. Auf diesem Foto wird Sophie von einem Sicherheitsmann des Supermarktes festgehalten. Hier betritt sie das Polizeirevier, mehrere Bilder zeigen sie in Großaufnahme zu einer Zeit, da sie noch hübsch war. Und hier ist sie hässlich wie nie, das ist im Oise, sie geht Arm in Arm mit Valérie durch den Garten. Sie sieht bereits bedrückt aus. Hier … Hier hält Sophie den kleinen Léo an der Hand, Sophie weint, sie kann nichts dagegen tun, sie kann nicht mehr nachdenken, nicht mehr denken, sie kann nur noch weinen, ihr Kopf wackelt unter der Wucht dieses unwiderruflichen Unglücks, das ihr hier ausgebreitetes Leben darstellt. Sie wimmert, Schluchzer entringen sich ihrer Kehle, Tränen überschwemmen die Fotos, den Keller, ihr Leben, Sophie fällt auf die Knie, hebt die Augen zu den Fotos, ihr Blick fällt auf Vincent, der nackt auf ihr liegt; das Bild wurde durch das Fenster ihrer Wohnung aufgenommen, wie ist das denn überhaupt möglich?, Großaufnahmen von Dingen, die ihr gehörten – Brieftasche, Handtasche, Pillenschachtel, da ist sie wieder mit Laure Dufresne, hier noch einmal … Sophie stöhnt, sie presst die Stirn auf den Boden und weint weiter. Auch wenn Frantz jetzt kommen würde, das wäre nunmehr egal, sie ist bereit zu sterben.
    Aber Sophie stirbt nicht. Endlich hebt sie wieder den Kopf. Nach und nach weicht ihre Verzweiflung nackter Wut. Sie richtet sich auf, wischt sich die Tränen von den Wangen. Ihre Wut ist ungebrochen. Auch wenn Frantz jetzt kommen würde, das wäre nunmehr egal, sie ist bereit, ihn zu töten.
    Sophie ist überall auf diesen Wänden, mit Ausnahme der Wand rechts, an der nur drei Bilder hängen. Zehn, zwanzig, vielleicht dreißig Abzüge derselben drei Bilder, Ausschnittvergrößerungen, koloriert, schwarzweiß, sepia, neu bearbeitet, drei Bilder derselben Frau. Sarah Berg. Sophie sieht sie zum ersten Mal.

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