Der kalte Hauch der Angst
Frantzâ Ãhnlichkeit mit ihr ist verblüffend, die Augen, der Mund â¦Â Auf zwei Bildern ist sie jung, vielleicht um die dreiÃig. Hübsch. Sehr hübsch sogar. Das dritte Foto muss kurz vor ihrem Lebensende aufgenommen worden sein. Sie sitzt auf einer Bank vor einem Rasenstück, wo eine Trauerweide ihre Zweige herabhängen lässt. Wirrer Blick, starre Gesichtszüge.
Sophie putzt sich die Nase, setzt sich an den Tisch, klappt den Laptop auf und schaltet ihn an. Kurz darauf erscheint das Fenster für das Passwort. Sophie schaut auf die Uhr, sie gibt sich fünfundvierzig Minuten und beginnt mit dem Naheliegenden: Sophie, Sarah, Mama, Jonas, Auverney, Catherine â¦
Fünfundvierzig Minuten später muss sie aufgeben.
Behutsam klappt sie den Laptop zu und beginnt die Schubladen zu durchsuchen. Sie findet Sachen, die ihr gehört haben, teilweise sind es dieselben Gegenstände, die auf den angepinnten Bildern zu sehen sind. Sie hat noch ein paar Minuten bis zu dem Zeitpunkt, den sie sich gesetzt hat. Kurz bevor sie den Keller verlässt, schlägt sie ein kariertes Heft auf und liest:
3. Mai 2000
Gerade eben habe ich sie zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Sie heiÃt Sophie. Sie ging aus dem Haus. Ich habe sie nur kurz vorbeihuschen sehen. Offensichtlich hatte sie es eilig. Sie stieg in einen Wagen und ist gleich losgebraust, so dass ich Mühe hatte, ihr auf dem Motorrad zu folgen.
Vertraulich
Dr. Catherine Auverney
Clinique Armand-Brussières
An
Dr. Sylvain Lesgle
Direktor der Clinique Armand-Brussières
16. November 1999
Klinische Bilanz
Patientin : Sarah Berg
Adresse : (s. Akte)
Geboren : 22. Juli 1944, Paris (11. Arr.)
Beruf : ohne
Gestorben : 4. Juni 1989, Meudon (92. Dép.)
Sarah Berg wurde zum ersten Mal im September 1982 im Hospital Pasteur klinisch behandelt. Die Akte wurde nicht an uns weitergeleitet. Wir wissen aber aus zuverlässiger Quelle, dass diese Einweisung von ihrem behandelnden Arzt aufDrängen ihres Gattes Jonas Berg und mit Zustimmung der Patientin eingeleitet wurde. Wie es scheint, wurde ihr Klinikaufenthalt nicht über die Akutphase hinaus verlängert.
Zum zweiten Mal wurde Sarah Berg 1985 von Dr. Roudier in der Clinique du Parc behandelt. Die Patientin litt damals an massiven Symptomen chronischer Depressionen, die zum ersten Mal vor langer Zeit auftraten und deren Ursachen bis Mitte der Sechzigerjahre zurückreichen. Ihr Klinikaufenthalt infolge einer Intoxikation mit Barbituraten dauerte vom 11. März bis zum 26. Oktober.
Im Juni 1987 kam Sarah Berg bei ihrer dritten Einweisung in meine Behandlung, ihre Entlassung erfolgte am 24. Februar 1988. Ich sollte erst später erfahren, dass ihrer Medikamentenvergiftung, die dieser Einweisung zugrunde lag, zwischen 1985 und 1987 mindestens zwei Vergiftungen vorausgingen. Der körperliche Zustand der Patientin nach der Entgiftung konnte nach damaligem Kenntnisstand als stabil eingestuft werden, bei ihrem seelischen Zustand war jedoch eine intensive Therapie indiziert, um weitere Selbstmordversuche wirksam zu verhindern. Bei dieser Therapie bekam ich erst Ende Juli 1987 wirklichen Zugang zur Patientin.
Dabei stellt sich Sarah Berg, die damals dreiundvierzig Jahre alt ist, als eine hochintelligente und reaktionsschnelle Frau heraus, sie verfügt über ein umfangreiches und komplexes Vokabular und über eine unbestrittene Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken. Ihr Leben ist offensichtlich von der Deportation ihrer Eltern und deren Tod im Konzentrationslager Dachau, kurz nach ihrer Geburt, geprägt. Die ersten, zweifellos sehr früh auftretenden Depressionen mit Wahnvorstellungen schienen starke Schuldgefühle â was in solchen Konstellationen häufig vorkommt â bis hin zu überbordendem Narzissmus auszudrücken. Während unserer Sitzungen kam Sarahständig auf ihre Eltern zu sprechen und stellte häufig die Frage nach der historischen Rechtfertigung: Warum sie? Diese Frage kaschiert naturgemäà eine sehr viel archetypischere psychische Dimension, die mit Liebesentzug und dem Verlust des Selbstwertgefühls verbunden ist. Man muss betonen, dass Sarah ein ausgesprochen anrührender Mensch ist, teilweise sogar entwaffnend in ihrer übertriebenen Offenheit, mit der sie sich bis zum Exzess in Frage stellt. Wenn sie von der Verhaftung ihrer Eltern spricht, der Weigerung zu trauern â ihre Trauer
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