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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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ungeduldig, ein Gemütszustand, der zu Fehlern verleitet. Er atmet tief ein. Aus dem Schlafzimmerfenster fällt ein rechteckiger Lichtschein, der den Vorhang aus Nieselregen durchdringt, auf den Rasen. Man sieht eine Gestalt auftauchen und wieder verschwinden. In den Nächten auf seinem Beobachtungsposten hatte Frantz nicht den Eindruck gewonnen, dass Auverney an Schlaflosigkeit litt, aber man kann ja nie wissen … Frantz verschränkt die Arme, blickt in den Regen, der die Dunkelheit strichelt, und bereitet sich auf ein langes Warten vor.
    Als Kind war Sophie von Gewitternächten wie dieser fasziniert. Sie reißt das Fenster weit auf und atmet tief die frische Luft ein, die ihr die Lungen kühlt. Das braucht sie. Sie konnte nicht das ganze Medikament ausspucken, das Frantz ihr gegeben hatte, sie wankt ein bisschen und hat einen schweren Kopf. Die Wirkung dürfte nicht andauern, aber sie ist nun in der Wirkphase des Schlafmittels, und Frantz hat dieses Mal die Dosis erhöht. Das bedeutet, dass er eine Zeitlang weg sein wird. Um elf Uhr abends ist er weggegangen. Sophie vermutet ihn nicht vor drei oder vier Uhr morgens zurück. Zur Sicherheit stellt sie sich auf halb drei ein. Sie hält sich an den Möbeln fest, um nicht zu fallen, und öffnet die Badezimmertür. Sie ist mittlerweile daran gewöhnt. Sie zieht ihr T-Shirt aus, steigt in die Badewanne, atmet tief durch und dreht den Kaltwasserhahn auf. Bewusst stößt sie einen heiseren Schrei aus, dann atmet sie einfach nur weiter. Nach ein paar Sekunden ist ihr eiskalt, und sie reibt sich kräftig mit einem Handtuch ab, das sie auch gleich im Trockenraum vors Oberlicht hängt. Sie kocht sich einen starken Tee – den man im Gegensatz zu Kaffee nicht am Atem riechen kann  – , und während der Tee zieht, macht sie belebende Übungen mit Armen und Beinen, auf und ab, um ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, und allmählich spürt sie wieder etwas Leben in ihren Körper zurückkehren. Sie schlürft ihren heißen Tee, dann spült sie das Geschirr ab. Sie geht ein paar Schritte zurück und betrachtet aus einigem Abstand die Küche, um zu prüfen, ob sie Spuren hinterlassen hat. Sie steigt auf einen Stuhl, löst eine Platte aus der abgehängten Decke und holt einen kleinen, flachen Schlüssel heraus. Bevor sie in den Keller geht, streift sie Gummihandschuhe über und zieht andere Schuhe an. Ganz behutsam schließt sie die Tür und geht die Treppe hinunter.
    Keine Sekunde hat es zu regnen aufgehört. Von ferne hört man gedämpft die Lastwagen auf der Nationalstraße. Nachdem Frantz auf ein paar Quadratzentimetern still von einem Fuß auf den anderen treten musste, hat er sich leicht erkältet. Als er das erste Mal niest, geht im Schlafzimmer das Licht aus. Es ist ganz genau 1 Uhr 44. Frantz gibt sich zwanzig Minuten Zeit. Er nimmt wieder seine Warteposition ein und fragt sich, ob er wohl einen Arzt aufsuchen muss. In der Ferne hallt der erste Donnerschlag wider, der Himmel reißt auf und erleuchtet kurz das ganze Grundstück.
    Genau um 2 Uhr 05 verlässt Frantz seinen Posten, geht still um das Haus herum und befühlt den Rahmen eines kleinen Fensters auf Augenhöhe, durch das er mit der Taschenlampe deutlich das Innere erkennen kann. Der Fensterrahmen ist alt, die Winter haben das Holz aufquellen lassen. Frantz holt seine Werkzeugtasche heraus, legt eine Hand auf die Fensterscheibe, testet den Widerstand, aber kaum drückt er, fliegt das Fenster abrupt auf und kracht an die Wand. In dem tosenden Gewitter besteht wenig Gefahr, dass der Lärm bis ins obere Stockwerk auf der anderen Seite des Hauses zu hören war. Frantz macht seine Werkzeugtasche wieder zu, legt sie vorsichtig auf den Sims, zieht sich hoch, schlüpft durchs Fenster und springt auf der anderen Seite leise herunter. Der Boden ist betoniert. Er zieht die Schuhe aus, um keine Spuren zu hinterlassen. Mit der Taschenlampe in der Hand nähert er sich den Kartons mit den Unterlagen von Frau Doktor Auverney. Er braucht nur fünf Minuten, bis er den Karton mit den Buchstaben A bis G gefunden hat. Unweigerlich verspürt er eine Erregung, die ihn aus der Fassung bringt. Er muss sich zwingen, tief einzuatmen und seine Arme schlaff an den Seiten herabbaumeln zu lassen.
    Die Kartons sind sehr schwer. Verschlossen sind sie nurmit einem einfachen, breiten Klebeband. Frantz dreht den

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