Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
erzählt haben.«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.«
Sie hatten lange Gespräche geführt. Clarke hatte die üblichen Verhaltensregeln außer Acht gelassen und ganz offen mit Sandra geredet. Sie hatte ihre Fragen beantwortet, ihre Polizis-ten-Rolle abgelegt und sich als Mensch offenbart. Anfangs war das alles nur ein Trick gewesen, ein Schachzug, um Sandra für den Plan zu gewinnen. Doch dann war plötzlich mehr daraus geworden, wirkliche Offenheit. Clarke hatte viel mehr preisgegeben, als ihr Job es von ihr verlangte – viel mehr. Aber jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, dass Sandra ihr nicht mehr so recht über den Weg traute. Doch hatte das nun mit ihr – Siobhan – persönlich zu tun, oder lag es daran, dass die junge Frau überhaupt niemandem wirklich vertraute? Schließlich kannten sich die beiden Frauen ja erst seit der Vergewaltigung und wären sich nie begegnet, wenn diese schlimme Sache nicht passiert wäre. Clarke gab sich hier im Marina als Sandras Freundin aus, doch das war natürlich nur ein Trick. In Wahrheit waren sie ja gar nicht befreundet, würden es vielleicht nie sein. Ein schreckliches Verbrechen hatte sie zusammengeführt. In Sandras Vorstellung war Siobhan Clarke unauflöslich mit jener Nacht verbunden, die sie unbedingt vergessen wollte.
»Wie lange müssen wir denn noch bleiben?«, wollte sie jetzt wissen.
»Liegt ganz bei Ihnen. Wir können jederzeit gehen.«
»Aber dann verpassen wir ihn vielleicht.«
»Das ist nicht Ihr Fehler, Sandra. Der Typ kann sich überall rumtreiben. Ich hab nur gedacht, dass es vielleicht einen Versuch wert ist.«
Sandra drehte sich um und sah sie an. »Also noch 'ne halbe Stunde.« Sie sah auf die Uhr. »Ich hab meiner Mutter versprochen, dass ich um zwölf zurück bin.«
Clarke nickte, und die beiden schoben sich zurück in die von zuckenden Lichtblitzen durchbrochene Dunkelheit. Fast schien es, als ob die geballte Energie des Raumes in diesen Lichtblitzen gebündelt war.
Als sie wieder ihren Tisch erreichten, saß ein Neuankömmling auf Sandras Platz. Ein jüngerer Mann. Vor ihm auf dem Tisch stand ein großes Glas Orangensaft, an dem er sich mit den Fingern zu schaffen machte. Die anderen Club-Mitglieder schienen ihn zu kennen.
»Tut mir Leid«, sagte er und stand auf, als Siobhan und Sandra näher kamen. »Ich hab Ihnen den Platz weggenommen.« Er starrte Siobhan an und streckte ihr die Hand entgegen. Der Mann hatte einen festen Händedruck und war offenbar nicht bereit, Siobhans Hand so ohne weiteres wieder freizugeben.
»Kommen Sie, tanzen wir ein bisschen«, sagte er und zog sie auf die Tanzfläche. Ihr blieb kaum eine Wahl, als ihm zu folgen, und zwar in das Auge des Sturms, wo spitze Ellbogen sie empfingen und die Tanzenden sich brüllend und gestikulierend drängten. Ihr Begleiter blickte sich um und vergewisserte sich, dass man sie von dem Tisch aus nicht mehr sehen konnte. Dann überquerte er, ohne stehen zu bleiben, die Tanzfläche und führte sie an einer Bar vorbei in ein Foyer.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Clarke. Er drehte sich um, schien zufrieden und sah sie an.
»Ich kenne Sie«, sagte er.
Plötzlich wusste sie, dass auch ihr sein Gesicht irgendwie vertraut war. Sie überlegte krampfhaft: Vielleicht ein Kerl, den sie in den Knast gebracht hatte? Sie blickte rasch nach rechts und links.
»Sie arbeiten doch auf dem Revier in der St. Leonard's Street«, sagte er. Sie sah auf seine Hand, die noch immer ihr Handgelenk umklammert hielt. Er folgte ihrem Blick und ließ sie plötzlich los. »Oh, Entschuldigung«, sagte er, »ich wollte nur…«
»Wer sind Sie?«
Er schien gekränkt, dass sie ihn nicht kannte. »Derek Linford.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Fettes Avenue?« Er nickte. Die Hauszeitung – genau, dort hatte sie sein Gesicht gesehen. Und vielleicht in der Kantine im Präsidium. »Und was machen Sie hier?«
»Das könnte ich Sie genauso gut fragen.«
»Ich bin mit Sandra Carnegie hier.« Oh, dachte sie, bin ich ja gar nicht… Ich stehe ja hier mit dir in diesem Foyer herum…, dabei hab ich ihr versprochen…
»Ja und«, sagte er. Dann verfinsterte sich plötzlich sein Gesicht. »Oh, verdammt, sie ist kürzlich vergewaltigt worden, nicht wahr?« Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. »Und Sie hoffen, dass sie den Kerl wieder erkennt?«
»Richtig.« Clarke lächelte. »Sind Sie auch Mitglied in dem Club?«
»Und wenn schon?« Er schien darauf zu warten, dass sie
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