Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
Gewaltanwendung bei der Lösung strittiger Fragen zwischen Staaten. Doch das bedeutet keinesfalls, daß das Recht der Völker, mit der Waffe in der Hand einer Aggression Widerstand entgegenzusetzen oder für die Befreiung von ausländischen Unterdrük-kern zu kämpfen, aufgehoben wäre. Denn es ist ein heiliges und unveräußerliches Recht, und die Sowjetunion hilft ohne Wenn und Aber allen.» 8
Den amerikanischen Gegenentwurf zur Friedlichen Koexistenz, die «Strategie des Friedens», die US-Präsident Kennedy am 10. Juni 1963 in seiner berühmten Ansprache in Washington präsentierte, hatte ebenfalls den Vorrang politischer Lösungen, aber auch die Abrüstung und den Verzicht auf den atomaren Erstschlag in den Mittelpunkt gestellt. Frieden sei das vernünftige Ziel vernünftiger Menschen. Ansonsten sei man bereit, «mit jedem anderen System auf der Erde in einen friedlichen Wettstreit zu treten». Die Lösung zur Beendigung des Kalten Krieges liege letztendlich darin, «vermehrte Kontakte und Verbindungen» mit der Gegenseite zu suchen. 9 Vor allem im geteilten Berlin, das seit dem Mauerbau 1961 besonders unter der festgefahrenen deutsch-deutschen Politik und der fehlenden Annäherung gerade in alltäglichen humanitären Fragen litt, begriff man, daß das, was Kennedy ausgeführt hatte, ein Ausweg sein konnte. Den Willen, die amerikanischen Ideen sogar dann aufzugreifen, wenn sie im Gegensatz zur westdeutschen Bundespolitik standen, machte als erster der Presseamtschef des seit Februar 1963 in Westberlin unter Willy Brandt amtierenden sozialliberalen Senats, Egon Bahr, deutlich. In einem Vortrag am 15. Juli 1963 im bayerischen Tutzing plädierte er unter Berufung auf Kennedy für die Entspannung zwischen den Blöcken. «Ich sehe nur den schmalen Weg der Erleichterung für die Menschen in so homöopathischen Dosen, daß sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags [in der DDR] ergibt, die das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde. [...] Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, [...] daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpaßt, denn sonst müßten wir auf ein Wunder warten, und das ist keine Politik.» 10
Das, was der Senat von Westberlin hier ankündigte und was ab 1969 auf Bundesebene in die «Neue Ostpolitik» der sozialliberalen Koalition mündete, war im Koordinatensystem des Kalten Krieges revolutionär, auch wenn man sich auf die Führungsmacht des Westens berief. Entsprechend heftig wurde dieser «Verrat» gerade von Konservativen bekämpft. Während in Berlin die Erleichterungen - etwa durch das Passierscheinabkommen 1963 - rasch spürbar waren, setzte sich die Einsicht, daß es sich bei der Entspannungspolitik auch um eine bundespolitische Notwendigkeit handelte, in Bonn nur langsam durch. Man wußte dort aber sehr wohl, daß die harte Linie gegenüber der DDR, die außenpolitisch durch die Hallstein-Doktrin symbolisiert wurde, in vielen Fällen unbrauchbar und sogar kontraproduktiv geworden war. Tatsächlich geriet bereits die Große Koalition ab 1966 auf deutschlandpolitischem Gebiet in Turbulenzen, weil Bundeskanzler Kiesinger einerseits einen offiziellen Briefwechsel mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, führte, andererseits aber -ebenso offiziell - die DDR nicht als Staat anerkannte. 11 Kritik gegenüber dieser Inkonsequenz kam insbesondere auch von der sich seit 1967 linksliberal profilierenden FDP, die ab 1969 mit der SPD die sozialliberale Koalition unter Brandt bildete. «Aufgabe der praktischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es», hieß es in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, «die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. [...] Zwanzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Dies ist nicht nur ein deutsches Interesse, denn es hat
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