Der kalte Schlaf
danach – eine Erinnerung in einer Erinnerung an meine dämliche Geste, im Versteck zu bleiben, aber dennoch stumm die Hand zu heben. Ich war auf Nummer sicher gegangen. Einfach jämmerlich, das war ich. Zu brav, um unartig zu sein, und zu unartig, um brav zu sein. Ich erinnere mich, wie sehr ich mir wünschte, jedes andere Kind in der Klasse zu sein, nur nicht ich selbst. Ich bin mir einigermaßen sicher, dass ich all diese Gefühle empfand, obwohl mir mit fünf Jahren vermutlich der Wortschatz fehlte, sie auszudrücken. Allerdings kann ich mir bei alldem nicht ganz sicher sein, da die Geschichte, die ich aus dem Vorfall gemacht und mir vierzig Jahre lang erzählt habe, meine Erinnerungen niedergetrampelt und sie mittlerweile effektiv ersetzt hat. Wahre Erinnerungen sind zerbrechliche, fragmentarische Erscheinungen, sie können nur zu leicht von einer robusten Erzählung eingeschüchtert werden, die gewebt wurde, damit die Erinnerung schön im Gedächtnis bleibt. Fast unmittelbar nach einer Erfahrung beschließen wir, wie wir sie interpretieren wollen, und dann konstruieren wir eine dementsprechende Geschichte. Die Geschichte enthält den Teil der Erinnerungen, die diesem Zweck dienen – strategisch platziert, wie bunte Broschen auf dem Revers eines schwarzen Jacketts –, während die Erinnerungen, die nicht ins Konzept passen, weggelassen werden.
Jahrelang habe ich eine andere Version dieser Episode erzählt, eine Version, in der ich mit einem dreisten Lächeln auf dem Gesicht aus meinem Versteck herauskam und selbstsicher erklärte: »Was ist denn? Ich habe mich nicht versteckt. Ich habe schließlich die Hand gehoben, nicht wahr? Keiner hat gesagt, dass wir uns nicht hinter das Puppenhaus setzen dürfen.« Und dann, eines Tages, dachte ich mitten in meiner Erzählung: Kann das wirklich so passiert sein? Manchmal müssen wir die Geschichten, die wir uns ununterbrochen selbst erzählen, zerstören, um an die wahren Erinnerungen zu kommen. Es ist, als würde man Farbschicht um Farbschicht von einer Backsteinwand entfernen. Darunter finden sich die ursprünglichen Backsteine – verfärbt und in schlechtem Zustand, weil sie jahrelang nicht atmen konnten.
Das Komische ist, heute erscheinen mir beide Versionen der Geschichte wie Erinnerungen, weil ich beide so oft erzählt habe, mir selbst und anderen. Jedes Mal, wenn wir eine Geschichte erzählen, vertiefen wir die Bahnen, die sie in unserem Gedächtnis gegraben haben, und so erscheint sie uns mit jedem Erzählen realer.
Eine wahre Erinnerung dagegen ist eher das flüchtige Bild eines roten Mantels, ein Zitronenbaum, von dem man nicht mehr weiß, wo er stand, ein starkes Gefühl, der Name eines Menschen, den man einmal gekannt hat – nur der Name, weiter nichts. Richtige Erinnerungen haben keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Es gibt keinen Spannungsbogen, keinen offensichtlichen Sinn, ganz bestimmt keine Moral, also nichts, was das Publikum zufriedenstellen könnte, und mit »Publikum« meine ich den Erzähler oder die Erzählerin, die immer das erste Publikum für die eigenen Geschichten sind.
All das gilt auch für Weihnachten 2003 und das, was in Little Orchard geschah, wobei es sich – wie Sie vermutlich mittlerweile erraten haben – nicht um eine Erinnerung, sondern um eine Geschichte handelt. Hoffen wir, dass diese Geschichte sich dafür eignet, ein paar der darin eingebetteten Erinnerungen aufzuspüren und vielleicht auch ein paar der verworfenen Erinnerungen, die nicht in die Geschichte passten und derer man sich entledigt hat.
Machen wir also folgendes Experiment: Ich werde vorerst davon ausgehen, dass die Little-Orchard-Geschichte eine Geschichte ist, an der nichts stimmt, dass nichts von alledem jemals passiert ist. Dass niemand am Weihnachtsmorgen aufgewacht ist, um festzustellen, dass vier Mitglieder der Familie verschwunden waren.
1
D IENSTAG , 30. N OVEMBER 2010
Es ist kein besonderer Ort. Die Backsteine der Torpfosten haben Lücken, dort wo der Fugenputz herausgebrochen ist. Die Fenster haben hässliche Kunststoffrahmen. Es ist kein Ort, an dem Wunder geschehen.
Und ja, auch ich habe Anteil an dieser Atmosphäre, das will ich nicht leugnen, auch ich bin nichts Besonderes. Ich bin niemand, an dem sich Wunder vollbringen ließen.
Es wird nicht funktionieren. Ich darf also nicht enttäuscht sein, wenn es nichts bringt.
Ich bin ja auch nicht hier, weil ich glaube, dass es helfen könnte. Ich bin hier, weil ich es satthabe, ein
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