Der kalte Schlaf
verborgen war, und sie hat zwei Kinder gerettet. Darauf wird sie sich konzentriert haben. Sie wird dabei völlig ausgeblendet haben, dass sie das Feuer selbst gelegt hatte – sie wird sich nicht erlaubt haben, an ihr wahres Ziel zu denken. Ich glaube, beim ersten Mal war es ihr nur möglich, auf diese spezielle Weise zu morden: buchstäblich umschlossen von einer Identität, die ihre wahre Identität auslöschte und ihr entsetzliches Verhalten neutralisierte. In irgendeinem versteckten Winkel ihrer Gedanken wird ihr ihre Tat ebenso entsetzlich erschienen sein wie Ihnen oder mir.
Ich glaube, obwohl ich es nicht beweisen kann, dass Jo es vorgezogen hätte, dieselbe Methode bei Kat Allen anzuwenden, aber Kat wohnte in einer Wohnung. Sie hatte keine eigene Haustür, die von der Straße aus zugänglich war. Wahrscheinlich sollte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber hinsichtlich der Frage, warum Jo die Kinder in Kats Wohnung mitgenommen hat, bin ich anderer Meinung als die Polizei. Ich weiß, dieser Aspekt des Ganzen wird Sie am meisten bedrücken, aber falls Ihnen das ein kleiner Trost ist, ich glaube wirklich nicht, dass Jo die Jungs hier nur benutzt hat. Natürlich, eine Mutter, die an jenem Tag, an dem ein Mord geschah, ihre beiden kleinen Söhne bei sich hatte, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit verdächtigt werden, diesen Mord begangen zu haben, aber ich glaube nicht, dass sie die Kinder deshalb mitgenommen hat. Sie wollte nicht andere täuschen, sondern sich selbst. Sie wollte glauben, dass sie sich vor allem einen schönen Tag mit William und Barney machte, auch wenn sie vorher etwas Unerfreuliches zu erledigen hatte. Dass sie Kat an einem Tag tötete, den sie ansonsten in Gesellschaft ihrer geliebten Kinder zubrachte, wird es ihr erst erträglich gemacht haben. Sie brauchte die Jungs als moralische Unterstützung, wenn Sie so wollen.
Ich will ihre Taten nicht rechtfertigen, Neil. Ich versuche nur, Ihnen begreiflich zu machen, was in ihrem Kopf vorgegangen sein könnte, mehr nicht. Die äußere Erscheinung war Jo immer wichtiger als ihre eigene innere Realität, die sich nie entfalten durfte, die nie Anerkennung gefunden hat. Ergibt das einen Sinn? Ich will damit sagen, dass Jo sich immer noch in alle möglichen Richtungen entwickeln könnte. Ich versuche nicht, Ihnen die Verantwortung für sie aufzubürden – glauben Sie mir, das ist nicht meine Absicht. Ich will Ihnen nur Gelegenheit geben, die ganze Sache einmal mit anderen Augen zu betrachten, das ist alles.
Was die Jungs angeht, ist vor allem eins wichtig: Mann muss ihnen begreiflich machen, dass nichts von dem, was geschehen ist, ihre Schuld ist. Sie sind Kinder und in keiner Weise verantwortlich für die Probleme der Erwachsenen. Bitte tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, um ihnen das einzuhämmern. Sie werden es brauchen. Die beiden werden zurückblicken und sich fragen, was sie hätten tun können, um zu verhindern, dass ihre Mutter derart unglücklich wurde. Ihre Aufgabe, Neil – die wichtigste, die Sie in Ihrem ganzen Leben haben werden –, besteht darin, den beiden klarzumachen, dass es nichts gab, was sie hätten tun können. Sie werden die beiden nicht vor allem Leid bewahren können, aber Sie können dafür sorgen, dass sie sich nicht schuldig fühlen, wie so viele Kinder es tun.
Ich will Ihnen hierzu ein Beispiel geben: Als Kind, an meinem ersten Schultag, war ich nervös und schüchtern, und da ich eigentlich gar nicht dort sein wollte, versteckte ich mich hinter einem Puppenhaus und tat so, als wäre ich nicht da. Ich wusste, dass ich unartig war, und irgendwann bekam ich Angst und zeigte mich. Meine Lehrerin schlug mich vor den Augen der ganzen Klasse mit einem Lineal. Ich rede immer noch sehr ungern darüber. Es war die demütigendste Erfahrung, die ich je gemacht habe. Als meine Mutter am Nachmittag kam, um mich abzuholen, erzählte meine Lehrerin ihr, was ich angestellt hatte, und meine Mutter sprach eine ganze Woche lang kein Wort mit mir. Mir war absolut klar, dass ich durch meine Tat das Recht verwirkt hatte, von ihr geliebt zu werden. Jahrelang empfand ich vor allem Schuldgefühle, wenn ich an jenen Tag zurückdachte. Wenn ich mich nur nicht hinter dem Puppenhaus versteckt hätte … Es war alles meine Schuld, ich war ein furchtbarer Mensch und wertlos. Es hat fast zwanzig Jahre gedauert, bis ich erkannte, wer die wirklich Schuldigen waren: meine Lehrerin und meine Mutter. Die Erwachsenen. Ich war ein ganz normales Kind, das
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