Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
das Überraschende – freute sich über jeden einzelnen Teller, als wäre er der erste. Spülte und trocknete ihn ab, hängte ihn auf und sagte beim Abendessen feierlich: Wir haben jetzt auch Eisenach.
Unter Hamburg saß auf einem Stuhl am Fenster ein großer Mann um die sechzig, den Thomas noch nie gesehen hatte. Immer wieder fiel der Blick seines Vaters auf diesen Mann, der als Einziger im Raum Anzug und Krawatte trug.
»Ich bin Josip«, sagte der Mann und lächelte.
Thomas nickte. Jetzt erinnerte er sich, sein Vater sprach häufig von ihm. Josip Vrdoljak aus Balingen, der ein Jahr zuvor den baden-württembergischen Ableger einer neuen kroatischen Partei, der HDZ , mitgegründet hatte.
Kroatische Demokratische Gemeinschaft, Kreisverband Stuttgart, hatte sein Vater mit leuchtenden Augen gesagt. Noch am Tag der Gründung war er der Partei beigetreten. Zwanzig Jahre lang jugoslawischer Gastarbeiter in Deutschland, dann, von einem Moment zum anderen, Exilkroate.
Der Moment, in dem er Josip Vrdoljak begegnet war.
Ein Reisender in Sachen Heimat. Schon Ende der achtziger Jahre war Josip von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf gefahren, um die »Kroaten in Deutschland« zu besuchen. Ihm und anderen war es gelungen, die Kluft zu schließen, die seit dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der kroatischen Diaspora bestanden hatte: Sie hatten die Söhne und Töchter der faschistischen Ustaše mit denen der Tito-Partisanen vereint.
Ihr seid Kroaten, hatten sie zu ihren Zuhörern in Kanada, in den USA , in Australien, in Skandinavien, in Deutschland gesagt. Und bald habt ihr eine Heimat!
Dann, im April 1990, die ersten freien Wahlen in Kroatien seit dem Zweiten Weltkrieg. Die HDZ hatte gewonnen. Präsident der Teilrepublik war nun ein Mann, von dem Thomas’ Vater ebenfalls häufig sprach – Franjo Tuđman, Mitbegründer der HDZ .
Bald ist es so weit, hatte sein Vater geflüstert.
Doch jetzt schien das Projekt in Gefahr zu sein.
»Wir stehen vor der serbokommunistischen Invasion!«, rief sein Vater. »Wacht auf! Es geht um die Heimat !«
»Meine Heimat ist Rottweil«, sagte Milo auf Deutsch. Blass, ernst, hoch aufgerichtet saß er da, Milo Ćavar, 1968 in Osijek in Ostkroatien geboren, mit zwei Jahren mit der Mutter nach Deutschland geholt. Der große Bruder, der immer gewusst hatte, wohin er gehörte, was er tun und sein wollte – Klassensprecher, Student, Bankangestellter, Ehemann, Vater, Hausbesitzer in Rottweil, Baden-Württemberg, und wenn Kroatien, dann Urlaub auf Krk oder Mljet, alles andere hatte ihn nie interessiert.
Mit gerunzelter Stirn hielt Milo dem Zorn des Vaters stand.
Thomas musste lächeln. Der große Bruder, nahm immer alles so schwer. Jedes Thema eine Frage von Leben und Tod, jede Äußerung, als wollte er die Verantwortung für alle anderen gleich mitschultern.
»Du weißt nicht, was du sagst, Milo«, knurrte der Vater.
»Das Privileg der Jugend«, erklärte Josip mit einem Lächeln und richtete den Blick auf ihn. »Du bist Thomas, nicht wahr?«
Er nickte und sagte auf Deutsch: »Und das ist Jelena, meine Freundin.«
»Jelena Janić aus Vukovar«, sagte Josip. »Setzt euch, Thomas und Jelena.«
»Wir wollten …«
»Setzt euch hierher, zu mir.«
Die beiden Nachbarjungen auf den Stühlen rechts neben Josip sprangen auf.
Aller Augen lagen auf ihnen, nachdem sie sich gesetzt hatten.
Thomas und Jelena, dachte er stolz.
So, wie Josip ihre Namen ausgesprochen hatte, laut und deutlich ins plötzliche Schweigen der anderen hinein, war es beinahe eine Art offizieller Anerkennung ihrer Beziehung gewesen. Als hätte Josip ihnen seinen Segen erteilt. Die Partei .
Er unterdrückte ein Lachen.
Jelena dagegen wirkte noch angespannter als vorhin. Ihr Gesicht war gerötet, die Hitze des Raumes war ihr in den Kopf gestiegen. Vielleicht auch die Verlegenheit. Noch immer standen sie im Fokus der Aufmerksamkeit.
Thomas und Jelena.
Und Josip natürlich, der, so kam es ihm vor, die Aufmerksamkeit der anderen allein durch einen Blick, ein Wort, ein Lächeln zu lenken vermochte.
Bei seinem Vater war es dieses eine Wort gewesen.
Eine Heimat, versteht ihr denn nicht?
Sie hatten im selben Zimmer gesessen, in dem sie jetzt saßen. Der Vater, die beiden Söhne und, unsichtbar, Josip. Der Vater hatte leise gesprochen, als wären sie Teil einer Verschwörung gewesen. Hatte von Reisen und Reden Franjo Tuđmans gesprochen, vom Traum eines unabhängigen Kroatien, der Bedeutung der Diaspora. Tuđmans Regierung werde
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