Der kalte Traum - Bottini, O: Der kalte Traum
Hauptstraße hinunter. Jordan mochte Rottweil. So niedlich, so herausgeputzt, so harmlos.
»Nichts«, sagte Igor.
Jordan nickte.
Wen sie auch fragten – in Supermärkten, Bäckereien, Sportvereinen, Lokalen, katholischen Kirchen, der kroatischen Mission –, alle sagten dasselbe wie Markus Bachmeier vor wenigen Tagen: Thomas Ćavar sei 1995 in Bosnien ums Leben gekommen, von den Serben ermordet, die Leiche sei nie gefunden worden. Er hatte nicht den Eindruck, dass die Landsleute logen, und das Gleiche galt für Igor. Sie wussten, wann man sie belog. Wer gefoltert worden war und selbst gefoltert hatte, konnte Lüge von Wahrheit unterscheiden.
Ein anderer jedoch log.
Nachdenklich zog Jordan eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an, vor sich die unruhigen Augen Markus Bachmeiers.
Er ist im September 1995 gestorben, in Bosnien. Im Krieg.
Die Augen hatten etwas anderes gesagt.
Aber Bachmeier, der Jugendfreund, hatte niemanden angerufen, hatte niemanden darüber informiert, dass sich ein Mann vom Balkan nach Thomas Ćavar erkundigt habe, fünfzehn Jahre nach dessen Tod. Seine Telefone waren genauso verwanzt wie sein Computer, dasselbe bei Vater Ćavar und dem Bruder, Milo. Jeden Morgen bekam Jordan die verschlüsselten Kommunikationsprotokolle per E-Mail. Kein noch so vager Hinweis darauf, dass Thomas Ćavar am Leben war.
Igor wandte sich ihm zu. »In Bosnien liegen viele Tote, die nie identifiziert wurden.«
Wieder nickte Jordan.
Ćavars Name tauchte auf keiner Liste auf, es gab kein Grab, nicht einmal ein einfaches Holzkreuz. Doch was bedeutete das schon?
Während des Krieges waren Tausende Menschen verschwunden und nie wieder aufgetaucht, und die Namen vieler von ihnen standen auf keiner Liste, auf keinem Grab. Wenn die Serben die Leiche in ein Massengrab geworfen hatten, was hätten Ćavars Kameraden dann beerdigen sollen?
Alles sprach dafür, dass Thomas Ćavar tatsächlich im September 1995 getötet worden war.
Aber die Zweifel blieben. Da waren Bachmeiers Lüge – und ein Gedanke.
Niemand hatte Ćavar als vermisst gemeldet, niemand hatte ihn für tot erklärt. Die Eltern nicht, der Bruder, seine große Liebe Jelena nicht. Und das tat man doch, zumindest wenn man Gewissheit brauchte.
Jordan hatte es getan und Gewissheit bekommen. Die verbrannten Leichen in seinem Geburtshaus waren die seiner Eltern gewesen. Sein Bruder war nicht weit von Briševo erschossen, die Leiche in ein Massengrab geworfen worden. Die Redak-Grube, ein Tagebau bei Ljubija, zehn Kilometer westlich von Prijedor.
Vielleicht, dachte er, waren die Ćavars anders. Wollten keine Gewissheit, sondern sich stattdessen einen Rest Hoffnung bewahren.
»Du bist nicht überzeugt«, sagte Igor.
»Nein.«
»Dann sollten wir uns den Bruder vornehmen.«
»Erst wenn es nicht anders geht.«
Igor zuckte die Achseln.
»Ich fahre heute Nacht noch mal zu Bachmeier«, sagte Jordan.
Auf Umwegen hatte er den Wagen durch die schmalen Straßen in die Glükhergasse gelenkt. Vor dem zweistöckigen Eckhaus, in dem der alte Ćavar seit 1970 lebte, hielt er. In der Sprengergasse ein Laden, HAUSHALTWAREN KOPF , neben dem Schaufenster ein rot-weißer halb verrosteter Kaugummiautomat, in der Glükhergasse der Eingang zur Wohnung. Eines der Fenster im Erdgeschoss stand offen, gab den Blick auf eine Wand voller Zierteller frei. Ćavar, seit 1996 verwitwet und allein, war nicht zu sehen.
»Heute hat jemand was über Jelena erzählt«, sagte Igor. »Sie ist 1995 mit ihren Eltern in die Vojvodina gezogen. Zu Verwandten. Sechsundneunzig hat sie geheiratet, einen Russen. Siebenundneunzig ist sie mit ihm nach Moskau.«
»Ich sage Marković, dass er sich darum kümmern soll. Ist von Zagreb aus leichter.« Jordan fuhr weiter. Oberhalb des Stadtgrabens hielt er erneut. »Zwei, drei Tage noch«, sagte er.
»Ja.« Igor drückte seinen Arm zum Abschied. Aber er stieg nicht aus.
Die Abende und Nächte in der fremden Welt waren lang.
Sie wohnten in unterschiedlichen Hotels, arbeiteten allein, achteten darauf, in der Öffentlichkeit nicht zusammen gesehen zu werden. Sie telefonierten nicht miteinander. Jeden zweiten Abend trafen sie sich um achtzehn Uhr, immer an einem anderen Ort. Jordan hatte eine Liste mit Treffpunkten angefertigt, sie hatten sie auswendig gelernt. Sie fuhren ein paar Minuten lang durch Rottweil, berichteten, besprachen sich. Trennten sich wieder.
»Vielleicht hast du recht, und wir haben mit den Falschen gesprochen«, sagte Igor.
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