Der Kalte
Albertinaplatz war das Monument mit riesigen Tüchern verhüllt. Schnüre liefen hinauf und quer. Ein kleines Rednerpult, mit rotweißroten Fahnen drapiert, stand so da, dass die Redner der Oper den Rücken zuwandten. Bundeskanzler Friedrich Habitzl hatte es sich nicht nehmen lassen, einleitende Worte zu sprechen. Er war bereits im Skandal um das Stück VOM BALKON kaltblütig geblieben. Der Vorhaltung, Muthesius würde ihn in diesem Theaterstück andauernd insultieren, begegnete er mit der Kunstfreiheit, die für ihn keine Phrase sei und nicht ende, wo es einem Mächtigen nicht passe, erstens, und zweitens, dass er sich nicht von jedem beleidigen lasse.
Er sprach kurz und doch gewunden vom Antifaschismus als notwendigem Geburtsmerkmal der Zweiten Republik und dankte dem Künstler. Bürgermeister Georg Purr ließ einige Anekdoten aus der Freundschaftskiste mit dem Bildhauer auf das Publikum hinunterperlen und hob die Bedeutung der Stadt Wien in Bezug auf Mut und Unerschütterlichkeit hervor:
»Viele – mehr als da drüben jetzt protestieren – waren gegen das Denkmal und noch mehr gegen diesen Standort. Aber die sind alle glorreich gescheitert. Es war nicht leicht, gelt Herbertl? Es war nicht einfach. Aber ich habe einst gesagt: ›Da stellen wir es hin, Herbertl.‹ Denn zu diesem Platz, einem der schönsten unserer wunderbaren Stadt, passt dieses Monument des Erinnerns und Niemals Vergessens. An diesem Ort sind auch unschuldige Menschen zu Tode gekommen. Aber lassen wir die großen Worte und freuen wir uns einfach.« Er wollte nach dem Applaus das Rednerpult verlassen, sagte: »Ah ja, noch etwas«, hob die Arme und rief: »Die Nachwelt wird es uns danken. Besonders dir, Herbert.«
Krieglach sollte nun an die Reihe kommen. Er saß unten, in sich gesunken, und winkte ab. Tonio Gaspari machte »meinen Freund, den Bürgermeister«, darauf aufmerksam, dass die Bombenopfer nicht unbedingt schuldlos waren, worauf aus dem Publikum jemand »Pfui« rief. Gaspari hob seinen Löwenkopf, sah dem Rufer treuherzig in die Augen, nahm sein Redemanuskript heraus und verlas mit Emphase, was er auf den letzten Drücker hingeschrieben hatte.
Als er fertig war, schaute er zu einem Beamten hinüber, der Bürgermeister sah den Blick, sprang auf, zischte zu Gaspari: »Das ist meine Sache«, gab dem Beamten das Zeichen, und die Tücher fielen vom Monument herunter. Mächtig ragte
das vierteilige Steinzeugnis in den hellblauen Septemberhimmel. Der Beifall rauschte auf, als ob ein Schwarm Tauben gleichzeitig von einem Dach zum andern flöge.
Die Kulturstadträtin Hedwig Ebner, die neben dem Bürgermeister in der ersten Reihe saß, runzelte die Stirn.
»Davon wusste ich nichts, Schorsch«, sagte sie und deutete auf drei halbhohe Figuren, die um den knienden und straßenwaschenden Krötenjuden gruppiert waren.
»Das wird mir die meisten Hiebe einbringen«, seufzte Purr. Samueli starrte auf die Figuren, er sprang auf und begann zu applaudieren und sich vor Krieglach zu verneigen. Der verzog den Mund und wedelte mit den Armen, rief schließlich: »Schluss.« Samueli bemerkte, dass der Bildhauer betrunken war.
Um den gedemütigten Juden hatte Krieglach drei Wienerleute aufgestellt, zwei Männer und eine Frau. Einer der Männer trug einen Hut mit Gamsfeder, der zweite eine Sportkappe, die Frau hatte aufgesteckte Haare, die am Hinterkopf in einem kropfgroßen Dutt verknotet waren. Der Wiener mit Hut zeigte auf den Juden und hatte ein höhnisches Lachen im Gesicht. Der Wiener mit der Sportkappe deutete einen Tritt in den Hintern des Knienden an, die Frau hielt die Hände so vor den Körper, als würde sie entweder zu klatschen beginnen oder den Juden packen wollen. In die Antlitze der Wienerleute war ein hehrer Fanatismus eingezeichnet.
Am nächsten Tag tobte Moldaschl, es tobte das Waislager.
Das sei eine Beleidigung der ganzen Stadt, die Schändung des ganzen Landes. Der neue Erzbischof von Wien sagte zu Beran: »Unter uns, Herr Vizekanzler, pfui Teufel.« Beran zuckte die Achseln.
Johann Wais schwieg. Als ihn Walter Weber aufforderte, eine Erklärung abzugeben, lehnte er ab.
»Es war doch so«, sagte er. »Also lasst mich damit in Ruh.«
Nachts stand er an seinem Fenster und dachte an all das Ungemach, das ihm der Zweite Weltkrieg letztendlich eingebracht hatte.
Nach vier Monaten wurden die drei Wienerfiguren mit Zustimmung des Bildhauers entfernt, der kniende Jude mit Stacheldraht überzogen, damit sich die Touristen nicht
Weitere Kostenlose Bücher