Der Kalte
weiter auf seinen Buckel setzen konnten, um zu rasten und zu jausnen.
Edmund Fraul saß im Café Korb und las Zeitung. Er ertappte sich dabei, dass er den Artikeln nicht wirklich folgte, sondern immer wieder die Augen schloss und in sich selbst hineinspazierte. Seit dem Begräbnis von Wilhelm Rosinger erschien ihm seine Umgebung in einem anderen Licht. Obwohl der Herbst bereits voller Nebeltage war, hatte er das Gefühl, als wären die Tage klarer als früher. Vorgestern, als er im DÖW über den Akten der Spaniaken saß, fiel ihm ein, dass ihn schon seit zwei Wochen keine Albträume mehr heimgesucht hatten. Heute früh nach dem Aufwachen sah er auf seine schlafende Frau, indem er sich auf den Ellenbogen aufstützte und mit verhaltenem Atem ihr Antlitz betrachtete. Von seiner Brust her breitete sich eine schwache Süße aus, stieg ihm in den Hals und überzog sein Gesicht. Bevor Rosa ihre Augen geöffnet hatte, küsste er diese und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Rosa strich Edmund über das Haar.
»Alles Gute«, murmelte sie. »Mazel tow.« Sie umarmte ihn. So lagen sie eine Weile und schwiegen. Rosa löste sich schließlich, stieg aus dem Bett, saß auf der Bettkante und
ordnete ihr Haar. Er sah ihre Schultern, ihren Rücken. Was für eine tapfere Frau, meine Rosa, dachte er und wunderte sich, dass er sich über diese Gedanken und Anmutungen nicht wunderte. Rosa drehte sich um, legte sich wieder ins Bett zurück und schmiegte sich an ihn.
»Mein Geburtstag beginnt sehr angenehm«, sagte Edmund.
»Siebzig Jahre«, flüsterte sie. »Alles Gute, mein Freund. Sie kriegen dich nicht unter.«
»Wir überleben sie alle. Welche Überraschungen stehen mir heute noch bevor?«
»Es sind Überraschungen. Nach dem Frühstück musst du aus dem Haus. Mittags um eins erwarte ich dich. Abends musst du dir freihalten.«
»Ich habe mir den Abend freigehalten.«
»Stehen wir auf?«
»Warte noch einen Moment.« Edmund legte ihr seine Hand auf die Brust. »Du weißt, ich halte nicht viel von Innenschau. Aber ich muss dir sagen, ich fühle mich, als wäre ich ein anderer. Das hat mit dir zu tun, Rosa. Du bist das Geschenk meines Lebens.« Er schwieg, horchte seinen Worten nach. Er hörte sich hinzufügen: »Und Karli.«
Rosa legte ihre Hand auf seine. »Ach du.«
Sie erhob sich schnell und verschwand im Bad.
Nach dem Frühstück war er hierher ins Korb gekommen. Da saß er mit der Zeitung vor dem Gesicht. Paula Grünhut begrüßte ihn, nahm neben ihm Platz.
»Wie gehts«, fragte sie. Fraul legte die Zeitung beiseite.
»Es geht, danke. Selber?«
»Meine Tochter! Wie mir dieses Kind auf die Nerven geht. Sie ist zwanzig, schwieriges Alter.«
Sie zündete sich eine Zigarette an, rückte ihr Hütchen zurecht, zupfte an ihrem Sakko.
»Und meine Mutter! Die geht mir noch mehr auf die Nerven. Aber – verzeihen Sie – bin ich verrückt? Wieso jammere ich Sie an?«
»Gehts der Frau Mama schlecht?«
»Sie wird so rasch alt. Stellen Sie sich vor, die eigene Mutter wird uralt, obwohl sie sie doch umbringen wollten. Sie wissen eh.«
»Paula, sie wollten Sie doch auch umbringen!«
»Und dank meiner Mama ists ihnen nicht gelungen. Jetzt haben wir einander am Hals bis in alle Ewigkeit.« Paula Grünhut lachte.
Fraul griff wieder zur Zeitung. Nach einer Weile holte er sein Notitzbuch heraus, begann zu schreiben.
Paula, die immer wieder auf die Uhr geschaut hatte, fragte sich selbst: »Wo bleibt denn die Paula?« Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund, gluckste: »Ich meine die Paula Williams, Herr Fraul. Ich bin noch nicht meschugge.« Fraul unterbrach sein Schreiben, nickte.
»Ich weiß. Sie treffen die andere Schriftstellerin hier häufig.«
Er schrieb weiter. Als Paula Williams schließlich herbeigehetzt kam, verfingen sich die beiden Frauen in ein Gespräch, das nur so zwitscherte, sodass er rasch mit den Notizen zu Ende kam. Er saß da, hörte zu und versank in Gedanken.
Mittags, daheim, erwarteten ihn Karl und Katharina. Der Tisch war gedeckt, es gab Tafelspitz.
»Vierter November«, sagte Katharina Dronte während des Essens. »Das ist auch der Geburtstag meiner Mutter.«
Nach dem Essen packte Edmund die Geschenke aus. Einem Kuvert entnahm er vier Konzertkarten.
»Das ist ja heute.«
»Es sind«, verkündete Karl, »Karten für das Deutsche Requiem von Johannes Brahms. Mit dem Wiener Singverein.
Im Chor singen Guido Messerschmidt, der Arzt aus dem Spital, und Stefan Keyntz.«
»Stefan Keyntz?«, fragte
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