Der Kalte
Zuschauerraum. Hernach klatschte und buhte und brüllte und jubelte das Publikum eine halbe Stunde lang. Schönn und Muthesius hatten die Loge verlassen, gesellten sich zu den wieder und wieder sich verbeugenden Schauspielern.
Während Schönn mit allen Zähnen zufrieden die Zuschauer im Theater und die künftigen Zuschauer vor den Fernsehschirmen anlachte, schenkte Muthesius, sich verneigend, der Welt ein kleines Lächeln, welches Roman Apolloner in seinem Bericht über den Theaterskandal sardonisch nennen würde.
39.
Anfang Jänner neunundachtzig, an einem sonnigen, kalten Tag, stand Edmund Fraul in seinem Wohnzimmer und sah auf die Hollandstraße hinunter. Immer noch hielt ihn der Traum der letzten Nacht in den Krallen. Seine Gedanken drehten sich wie ein von Eis beeinträchtigtes Mühlrad in seinem Kopf. Als sei es der Nachhall des Traums, klopfte und knirschte es. Fraul bemerkte gegenüber eine Frau, die auf ihrem Balkon stand, sich über das Geländer beugte, um mit einem Mann zu sprechen, welcher auf dem darunterliegenden Balkon mit dem Rücken am Geländer und steifem Nacken zum darüberliegenden zurückredete. Frauls Blick wanderte weiter zu den beiden Fenstern im letzten Stock, hinter denen die Scharfschützen hockten, die ihn immer wieder niedergeschossen hatten, wenn er es wagte, seine Nase aus seiner eigenen Wohnung herauszustrecken. Prompt öffnete sich eines der Fenster, und eine Frau mit Kopftuch beutelte ein Leintuch aus.
Rosa berührte ihn an der Schulter, er wandte sich um und setzte sich zum Frühstück. Zwischen den Bissen verging die Zeit. Edmunds Blick blieb kurz am Antlitz seiner Frau haften, er glitt von den Krähenfüßen ihre Wangen entlang zum Mund und zu den Ohren. Rosa lächelte, Edmund sah aus dem Lächeln ihr jugendliches Gesicht heraussteigen, welches sich wie eine Maske über das alte legte.
»Egon Wirths, der Bruder, hat mich gefragt, ob ich das Buch schreibe«, sagte Edmund kauend.
»Die Mandl hat vor meinen Augen ein Zigeunermädel totgeschlagen«, sagte Rosa und bekräftigte den Satz mit einem leichten Nicken.
»Ich habe zugestimmt«, sagte Edmund.
»Nachher ist sie, ohne sich die Hände zu waschen, zu Fania gegangen und hat dem Orchester bei den Proben zugehört. Sie haben die Egmontouvertüre geübt. Die Mandl liebte Beethoven. Ach, hat die Beethoven geliebt.«
»Und jetzt werde ich es wirklich schreiben. Rosa, hör zu. Ich schreibe ein letztes Buch über Auschwitz.«
»Nicht mehr von unten?«
»Nein, eben. Du verstehst, da bin ich froh. Von oben schreibe ich diesmal. Ich versuche hinabzusehen, ich versuche einen Überblick. Das sollte schon noch sein.«
Rosa erhob sich und begann den Tisch abzuräumen.
Rosinger war Mitte Dezember an Grippe erkrankt, und so sahen er und Fraul sich eine Zeit lang nicht. Er getraute sich nicht, Fraul daheim anzurufen, um ihm mitzuteilen, dass er den nächsten und vielleicht auch übernächsten Donnerstag nicht beim Praterer erscheinen werde. Fraul wartete unwillig am ersten Donnerstag, wunderte sich, dass Rosinger ausblieb, rief ihn an und kanzelte ihn ab. Rosinger flüsterte eine Entschuldigung. Er sei krank.
»Ach so«, sagte Fraul etwas freundlicher. »Bessern Sie sich.« Er wollte einhängen.
»Kann sein«, flüsterte Rosinger, »dass ich nächsten Donnerstag noch nicht auf den Beinen bin.«
»Wieso? Was haben Sie denn?«
»Grippe, glaub ich.«
»Kommt Ihre Schwester?«
»Das ist unvermeidlich.«
Mitte Jänner sahen sie sich wieder.
»Hören Sie zu, Rosinger«, sagte Fraul statt einer Begrüßung. »Geben Sie mir alles, was Sie noch in der Kiste haben. Ich schreib nochmals und diesmal erschöpfend über unser Daheim.«
»Aha«, machte Rosinger.
»Gehts Ihnen wieder gut?«
»Bin gesund. Übrigens, Egger ist tot.«
»Ach ja?«
»Er hat sich auf der Rax derstessen.«
»Abgestürzt?«
»Nein, er muss ausgerutscht sein und ist mit dem Schädel aufgeschlagen.«
»Ihm hats den Schädel geknackt?« Fraul lächelte.
»Jedenfalls ist er hin. Agnes war beim Begräbnis, diese Blöde.«
»Gibts noch was aus Ihrer Kiste?«
»Krimskrams. Ich weiß nicht. Sie werden nichts brauchen können«, sagte Rosinger traurig.
»In den Zeitungen hab ich nichts gelesen über Eggers Tod.«
»Hausmann.«
»Auch nicht.«
»Er wollte nach Argentinien.«
»Bariloche?«
Rosinger nickte.
Er blieb sitzen und trank noch ein Bier, nachdem Fraul beide Menüs bezahlt hatte und gegangen war. Schließlich ging auch er, wartete am
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