Der Kalte
Ufer auf die Fähre. Rabindranath bemerkte ihn von der drüberen Seite und holte ihn. Es begann zu schneien. Rosinger trottete die Erdberger Lände stromaufwärts, bog in die Kundmanngasse ein. Als er vor seinem Haustor stand, überlegte er, ob er noch einen Sprung bei der Schwester vorbeischauen sollte, um seine Briefe an sie aus dem Gefängnis zurückzuverlangen. Vielleicht kann der Edmund etwas davon brauchen, dachte er und überquerte die Geologengasse. Ein weißer Opel erfasste ihn und schleuderte ihn zur Seite. Er prallte mit dem Genick an die Stange des Nachrangverkehrszeichens.
Moser, der im Zartl gewesen war und nun heraufhinkte, blieb stehen und sah Rosinger zusammengekrümmt auf dem Gehsteig liegen. Näherkommend bemerkte er, dass sich unter dem Körper eine Blutlache ausbreitete. Der Autofahrer war stehengeblieben, ausgestiegen und schaute entsetzt auf das Menschenbündel neben der Nachrangtafel. Moser eilte, so schnell er konnte, zu Rosinger.
»Das ist der Rosinger«, schrie er den Autofahrer an. »Der wohnt dada.« Moser zeigte auf Rosingers Fenster.
Inzwischen waren Leute aus allen Richtungen angelaufen gekommen. Der Ober aus dem Zartl schirmte seine Augen mit der Hand und starrte in die Geologengasse hinein. Agnes hatte den Schlag und das Bremsgequietsche vernommen, sie trocknete sich die Hände ab und blickte aus ihrem Fenster auf die Straße hinab. Ohne zu wissen, dass ihr Bruder dort lag, lief sie aus dem Haus. Moser drehte sich um.
»Ah, Frau Auer. Furchtbar. Ihr Bruder …«
Agnes sah hin, erkannte Wilhelm am Mantel, lief zu ihm,
setzte sich neben den Toten und fasste ihn an beiden Schultern an.
»Lassen Sie ihn liegen, bis die Polizei da ist«, sagte ein Passant.
»Ich bin seine Schwester. Das ist mein Bruder. Ich bin seine Schwester.« Agnes verstummte und bemerkte, dass die Blutlache sie erreicht hatte. Sie legte den Zeigefinger in die Lache. Der Passant zog sie an den Schultern hoch.
»Herrje«, rief Moser. »Na sowas.«
Edmund Fraul ging zum Kasten und suchte unter den Anzügen den Begräbnisanzug heraus.
»Wer ist denn gestorben?«, fragte Rosa erschrocken und trat an seine Seite.
»Niemand«, sagte Fraul, hängte den Anzug wieder zurück, nahm einen anderen. Er ging damit ins Schlafzimmer und kleidete sich an. Rosa war zur Tür gekommen, sah ihm zu.
»Du kennst ihn nicht«, sagte er nach einer Weile in unwirschem Ton. »Keiner von uns.«
Rosa verließ das Zimmer. Als er fertig war und sich verabschiedete, sagte sie:
»Heute kommen Karel und Kathi zum Essen.«
»Achso?«
»Ich hab es dir schon gestern gesagt.«
»Ist recht.«
Ohne sie zu küssen, verließ er die Wohnung. Unten im Haustor stehend, überlegte er, ob er ein Taxi nehmen sollte, eilte dann jedoch über die Salztorbrücke, vorbei an der Ruprechtskirche die Rotenturmstraße hinauf und über den Stephansplatz. Bei der Mahlerstraße bog er ab, ging schnell zum Schwarzenbergplatz und bestieg dort den Einundsiebziger. Er setzte sich im zweiten Waggon zum Fens
ter, zog den Kopf ein, vergrub sich im Sitz. Ein Fahrkartenkontrollor schreckte ihn auf, er zeigte seine Monatskarte.
Jetzt ist er dahin, dachte er. Vom Auto angefahren. Er hat sich nicht aufgehängt, trotz der Kinder, die er getötet hatte, er hat keinen Krebs gekriegt. Er hat auch schlecht geschlafen, immerhin. Der Rosinger. Warum passt er nicht auf? Vorm eigenen Haustor lässt er sich niederführen, so ein Trottel. Da überstehen sie alles, und dann das. Ich geh eigentlich auch öfters, ohne zu schauen. Vielleicht schiebt mich auch wer nieder. Das Büchel schreib ich aber noch.
Er war zu früh beim dritten Tor am Zentralfriedhof angekommen. Er wollte nicht von Rosingers alten Kameraden gesehen werden. Es war ihm unangenehm genug gewesen, dass er sich bei der Nazischwester nach Zeit und Ort des Begräbnisses erkundigen musste, ihr auch kondolierte. Jetzt mochte er keinem von dieser Bagage begegnen. Er kehrte im Wirtshaus gegenüber ein und bestellte sich Kaffee. Als es Zeit war, ging er in den Friedhof hinein. Vor der Halle 2 standen einige Leute, die so aussahen, als gehörten sie zum Rosinger. Er hielt sich abseits. Als der Trauerzug herauskam, sah er Agnes hinter dem Sarg gehen. Es waren nur wenige andere, die nun zum Grabplatz zogen. Nach einigen Minuten waren sie angekommen. Fraul verbarg sich hinter einem Gebüsch und beobachtete durch das Gezweig die Menschengruppe, hinter der Rosinger in die Erde gelassen wurde. Er konnte nicht sehen, wer von
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