Der Kannibalenclan
mit Laternenmasten gesäumten »Straße der Pioniere« steht ein für die Stadt Nowokusnezk recht modern wirkender Plattenbau. Das Stadtviertel, in dem das Gebäude steht, gehört zu den besseren Wohngegenden. Deutlich wird dies schon dadurch, dass sämtliche Wohnungen, die sich auf die insgesamt acht Stockwerke verteilen, mit Bad und Küche ausgestattet sind. Auch wenn Aufzug und Licht nur gelegentlich funktionieren – gemessen an den üblichen Standards dieser Stadt ist dies ein »Prachtbau«. Und wen wundert es, dass man hier große Angst vor Einbrechern hat und die Eingangstüren der Wohnungen aus massivem Eisen bestehen.
Hier wohnt die Familie Spesiwtsew. Eine gebildete Familie, wie die Nachbarinnen zu berichten wissen. Mit seiner Mutter Ludmilla bewohnt der siebenundzwanzigjährige Sohn Sascha Aleksander eine Zweizimmerwohnung. Seine vierunddreißigjährige Schwester Nadeschda ist seit ein paar Jahren aus dem Haus, aber sie besucht die beiden, sooft sie nur kann. Eine gutbürgerliche Familie. Die Tochter arbeitet beim städtischen Gericht als Sekretärin eines hohen Richters. Die Mutter arbeitet an einer Schule und hilft darüber hinaus ihrer Tochter am Gericht aus. Nadeschda ist eine bildhübsche Frau mit tiefschwarzen großen Augen, und sie gefällt den Männern auf der Straße.
Ihr Bruder Sascha Aleksander ist ein Einzelgänger, der nur seinen Hund, einen großen Dobermann, liebt. Zumindest sagen dies die Nachbarn der Spesiwtsews. Will man Genaueres erfahren, wissen sie von ständigen dumpfen Schlägen und von lauten Schreien zu berichten, die sie gehört haben wollen.
»Wir glaubten, der Sascha verprügelt bestimmt seine Schwester und seine Mutter«, sagt eine der Nachbarinnen. Und weiter erinnert sie sich: »Vor einigen Jahren, ich glaube, das ist jetzt sechs Jahre her, war es ganz schlimm. Sascha hatte sich mit einem sechzehnjährigen Mädchen verlobt. Und die schrie fast jeden Tag, bis irgendwann die Polizei kam und sie tot auf einer Bahre aus der Wohnung trug.«
Hinter vorgehaltener Hand erzählt sie weiter: »Aber niemand ist verhaftet worden. Man hat nie mehr etwas von diesem Mädchen gehört. Auch in der Zeitung hat man nichts gelesen.
Ich habe ständig die Todesanzeigen gelesen, aber nie stand etwas von einem sechzehnjährigen Mädchen darin. Na ja, die beiden Frauen arbeiten schließlich beim Gericht, und das Mädchen kam ja auch aus der sozialen Unterschicht, wer macht sich da schon groß Gedanken über so etwas.«
Weiter jedoch will sie sich nicht über die Angelegenheit auslassen. Man hat den Eindruck, sie habe schon zu viel geredet.
Es stellt sich heraus, dass die Nachbarin nicht übertrieben hat: Die Polizei muss eingestehen, dass sie diesen Fall regelrecht verschlafen hat. Verschlafen, vergessen, unbeachtet weggelegt: die Akten über den Mord an einem sechzehnjährigen Mädchen. Niemand weiß heute mehr, wo das Mädchen abgeblieben ist. Nicht einmal in den Protokollen der Gerichtsmedizin, wo man sie hätte hinbringen müssen, ist sie aufgeführt. Der zuständige Beamte der Kriminalpolizei, der den Fall bearbeitete, stellt lapidar fest: »Ich kann es mir auch nicht erklären, wie das geschehen konnte… Wo das Mädchen wohl beerdigt wurde? – Und das muss ja geschehen sein! – Ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß es nicht.«
»Aber jemand muss doch wissen, wo der Körper dieses Mädchens geblieben ist?«
»Ja… nun, da fragen Sie am besten bei (…) nach, die wissen es bestimmt.«
Der Tipp endet in einer Sackgasse: Niemand weiß, wo das sechzehnjährige tote Mädchen abgeblieben ist. Keine amtliche Stelle weiß Bescheid – niemanden scheint das Schicksal dieses Mädchen interessiert zu haben. Wäre sie nicht ausgerechnet in dieser Wohnung gefunden worden, würde man heute sicher gar nicht mehr wissen, dass hier je eine Leiche von der Polizei abtransportiert wurde.
Die Suche geht weiter – nach den Verwandten der Toten.
Lange, endlose Zeit wird damit verbracht, die Eltern dieses Mädchens ausfindig zu machen. Eines Tages erhält man eine Adresse außerhalb der Stadt, und es tritt ein, was man vermutet hatte.
In einer vollkommen verwahrlosten Einzimmerwohnung –
wenn man dieses Chaos auf engstem Raum Wohnung nennen will – trifft man sie, die Eltern dieses Mädchens. Beide sind etwa vierzig Jahre alt und völlig dem Alkohol verfallen. Es ist erst zehn Uhr am Morgen, und auf dem Tisch stehen zwei Literflaschen Wodka. Die Flaschen sind bereits bis zur Hälfte geleert,
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