Der Kannibalenclan
Gläser und leere Flaschen der vergangenen Tage im ganzen Zimmer verstreut. Die Eltern wissen zwar nicht, was dieser Besucher von ihnen will, doch sie sind gastfreundlich und schenken ihm ein Glas Wodka bis zum Rand voll.
»Was wollen Sie wissen von uns?«, fragt der Vater, und man merkt ihm seine Unsicherheit an. Seine Frau trinkt ihr halb volles Glas auf einen Zug aus und nickt.
»Ich würde gerne wissen, wo Ihre Tochter ist?«
»Meine Tochter?«, fragt die Mutter erschrocken.
»Sie ist in der Stadt und arbeitet da«, antwortet der Vater lallend. Wenn man ihn so ansieht, diese Gestalt, die, so scheint es, das letzte Stück Verstand dem Alkohol geopfert hat, glaubt man seiner Schilderung.
»Die hat geheiratet. So einen aus der Stadt. Wissen Sie, die Eltern des Bräutigams unserer Tochter arbeiten beim Gericht.
Ich glaube, sie wollte nicht, dass wir zur Hochzeit kommen, wegen… sie hat sich halt geschämt, weil ich keine Arbeit habe und weil wir hier in dieser einfachen Wohnung leben.«
»Und geht es Ihrer Tochter gut?«
»Natürlich, die haben doch alles, die in der Stadt. Meiner Tochter geht es sehr gut.«
»Wann haben Sie sie denn zum letzten Mal gesehen?«
»Das ist noch gar nicht so lange her«, mischt sich die Mutter ein und beeilt sich, ihr Glas wieder zu füllen.
»Mehr als zwei Jahre?«
»Nein, nein, ein paar Wochen vielleicht!« Die Mutter hat nun leichte, wohl vom Wodka herrührende Sprachschwierigkeiten.
»Du alter geiler Bock, hättest sie wohl auch gerne gehabt, was?« – Der Vater des Mädchens gestikuliert lachend, was er meint.
Auf einem kleinen Tisch steht ein Bild mit einem versilberten Rahmen. Man sieht ein hübsches sechzehnjähriges Mädchen, das lächelnd in die Zukunft blickt. Unbefangen lächelt sie, wie sich später herausstellt, in die Kamera ihres Verlobten. Doch er ist nicht nur ihr Verlobter, er ist auch ihr Mörder. Der Mann, der ihr die Liebe versprach und sie auf grausamste Weise um ihr junges Leben brachte.
»Eigentlich war sie es, die mich zu dem machte, was ich geworden bin«, sagt ihr Verlobter Sascha heute. »Sie wollte in eine gute Familie einheiraten, nicht mehr auf dem Lande bei ihren ständig betrunkenen Eltern leben. Sie wollte raus aus dem Elend, das ihr Zuhause war, weg von ihrem gewalttätigen Vater, der langsam ihre heranwachsende Weiblichkeit zur Kenntnis nahm, der ihren Körper immer mehr begehrte.«
Man bedankt sich bei den Eltern für die Gastfreundschaft und bemerkt die Freude der beiden darüber, dass man den Wodka nicht angerührt hat. Man denkt an das Mädchen, das sterben musste. Wen wundert es, dass in dieser Stadt Nowokusnezk ein Mädchen, das tot aus der Wohnung eines Ungeheuers getragen wird, niemanden interessiert, wenn nicht einmal die Eltern ihre Tochter vermissen?
Stundenlang wach im Bett liegend, denkt man darüber nach, was man erreicht hat durch die langen Recherchen. Was nützte dieser Besuch bei zwei Menschen, die der Alkohol ruiniert hat, deren Sinne ständig umnebelt sind, die weit entfernt von aller Realität leben? Unverständlich, wie Eltern ihre Tochter einfach vergessen können. Ein Mädchen, gerade in einem Alter, in dem sie ihre Mutter so sehr gebraucht hätte… Wer will den Eltern berichten, was vorgefallen ist?
Der Fund am Ufer
Niemand wundert sich mehr darüber, was in dieser tristen Stadt geschieht. Keines dieser abgestumpften Geschöpfe nimmt mehr wahr, dass in der Industriestadt Nowokusnezk innerhalb von Monaten immer mehr Mädchen spurlos verschwinden.
Niemand in dieser Stadt sorgt sich um das Leben neben seiner Haustür. Man ist mit sich selbst beschäftigt, was kümmern einen da die Schicksale im Hause nebenan. »Denen geht es auch nicht besser als uns«, das hört man öfter.
Man hätte einen Aufschrei der Empörung erwartet doch diese Stadt ist in Lethargie verfallen. Alle Berichte der örtlichen Presse über Gräueltaten in Nowokusnezk und Sibirien verpuffen in der Luft. Das Entsetzen der Bevölkerung hält sich in Grenzen. Der Tod spielt in diesem Land offensichtlich keine große Rolle mehr. Morde und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung.
An einem freundlichen Sonnentag im Sommer 1996 sollte sich jedoch alles schlagartig ändern. Nowokusnezk wurde von einem Ereignis erschüttert, das die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft überschreitet.
Am Ufer des kleinen Flusses Abuschka fängt alles an. Viele Frauen der Stadt kommen hierher, um ihre Wollteppiche im Fluss zu waschen und dann an den
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