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Der Katalysator

Der Katalysator

Titel: Der Katalysator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles L. Harness
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gekommen, weil sie das furchtbare Gefühl hatten, daß an diesem Abend aus New York die Nachricht von Kussmans Beförderung kommen würde. Schon die ganze Woche über hatten Gerüchte kursiert, daß dieser Abend, dieser Freitag, der Tag der Entscheidung sein würde.
    Die Wände von Seranes Wohnzimmer bestanden zum großen Teil aus Luminex, und an diesem Abend – Paul bemerkte es, kaum, daß Alessa ihm den Mantel abgenommen hatte – zeigten sie ein volles Orchester, das die gedämpften Klänge der Anfangsszenen von Song spielte: Der Ältestenrat war dabei, den besten, begabtesten jungen Mann des Dorfes auszuwählen. Den Jüngling, den man schließlich erwählte, würde man erschlagen, und er würde zum Propheten werden; sein Opfer aber würde der Gemeinschaft neues Leben und Wohlstand verleihen. Diese Orchestermusik, dachte Paul, konnte hier sehr leicht zu einem ironischen a propos werden. Er fragte sich, ob Serane das Stück wohl mit Vorbedacht ausgewählt haben mochte.
    Vincent Viturate, der Faser-Chef, debattierte mit Carter Scott, dem Polymer-Anwalt. Paul trat zu ihnen, gefolgt von Marggold.
    „Na“, sagte Scott gerade, „irgendeinen müssen wir haben.“
    „Wirklich?“ entgegnete Viturate. „Selbst wenn es diese Arschgeige ist? Ah, Sie mögen vielleicht denken, daß das Küßchen nicht durch und durch ein Bastard sein kann. Sie mögen denken, daß er auch gewinnende Eigenschaften haben muß, die zum Vorschein kommen, wenn man ihn erst kennengelernt hat. Aber solche Spekulationen entbehren der Füße, meine Herren: Sie werden Sie nirgendwohin führen. Unter diesem schleimigen Äußeren schlägt ein Herz aus Eis. Es schlägt unendlich langsam und bei einer Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt.“
    Paul verfolgte das träge, ständig variierte Kreisen des Holo-Goldfischs in dem Holo-Aquarium, das eine nahegelegene Ecke erleuchtete. Er lächelte voller Unbehagen, weil er nicht wußte, wie er den Faserexperten einschätzen sollte.
    Viturate fuhr mit seiner Tirade fort. „Das Küßchen hat eine lange Geschichte hinter sich. Als er noch jünger war, hatte er pausenlos Probleme mit der Poststelle des Labors. Sein Rohrpostfach war umgeben von den Postfächern der Patentabteilung. Zu Anfang bekam er immer die wöchentlichen Berichte vom West-Verlag. Alphabetisch war die erste Rubrik auf den Ausdrucken Anwälte, aber häufig gab es unter Anwälte keinen Eintrag. Die nächste Rubrik war Schlüssel einundzwanzig: Bastarde . Kussman schien jeden West-Ausdruck zu bekommen, der mit Bastarde anfing. Er wußte, daß sie es auf ihn abgesehen hatten. Er hat sogar einen Brief an West geschrieben und mit einer Beleidigungsklage gedroht, wenn sie nicht aufhörten, ihm die Dinger zuzuschicken. Ich habe eine Kopie von diesem Brief und von ihrer Antwort.“
    Paul war fasziniert. „Was haben sie denn geantwortet?“
    „Sie schlugen ihm vor, entweder seinen Namen zu ändern oder ein anderes Postfach zu beantragen. Das sah er ein und ließ sich von der Poststelle ein neues Fach geben, neben dem der Sandusky-Abteilung.“
    „Und?“
    „Sandusky, Abteilung Utah. Aber keine benutzte je den vollen Namen, sondern immer nur die Anfangsbuchstaben.“
    „Oh. Also ließ er sich wieder ein neues Postfach geben?“
    „Ja, zum dritten und letzten Mal. Neben mir – A.F.F.E. – Abteilung Faserstoffe, Forschung und Entwicklung. Dafür macht er mich immer noch persönlich verantwortlich.“ Er trank seinen Kaffee aus. „Und jetzt, Freunde, muß ich los. Wir haben für heute abend ein kritisches Pyropolymerfaser-Programm in der Pilotanlage angesetzt.“ Er verschwand in der Küche.
    Marggold warf Paul einen verschmitzten Blick zu. „Sie wollten fragen, wieviel Wahres an dieser Geschichte ist?“
    „Nun – ja …“
    „Fragen Sie nicht. Gehen wir lieber zurück zu den anderen Neurotikern.“
    Kurz vor elf ging Paul mit Mary Derringer nach hinten in Seranes Schlafzimmer, um ein Buch über Lincoln zu suchen. Was er sah, überraschte ihn nicht.
    Als er sich behutsam neben den Klimasteuerungsknöpfen auf die Kante des schattigen Kraftfeldbettes setzte, erklang von irgendwoher das „Wiegenlied“ von Brahms. Über ihm in der Luminex-Decke begannen hypnotische Farbmuster zu leuchten. Er unterdrückte ein Gähnen.
    Mary wanderte im Zimmer umher. An der gegenüberliegenden Wand blieb sie stehen und betrachtete das Holo-Porträt eines wenige Monate alten Babys. Es lächelte sie an und gurgelte, während sie ihren Kopf hin und her bewegte, um

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