Der Katalysator
mit Zeichentusche auf dem Tisch stehenlassen. Sie war gefroren und zerplatzt, und der Tintenfleck verunzierte noch immer die Tischplatte.
Paul sah das Zimmer, und das Herz drehte sich ihm im Leibe herum.
Serane beklagte sich nicht. Er brach den Schreibtisch auf und säuberte ihn sorgfältig. Dann benetzte er jeden erreichbaren Winkel seiner Zelle mit einem Desinfektionsmittel. Er putzte das Fenster, brachte eine Jalousie an und ließ sich aus dem Lager einen zweiten Stuhl bringen.
Er schien sich seiner Degradierung nicht bewußt zu sein. In den ersten paar Tagen pflegte Kussman hereinzuschauen und ihm einen guten Morgen zu wünschen. Aber Serane war immer so fröhlich, daß der Laborchef diese Aufgabe schließlich an Humbert delegierte.
Paul war einer der ersten Besucher, die am Morgen nach Seranes Umzug herkamen. Er grinste befangen. „Dürfen Sie hier Schach spielen?“ Serane grinste zurück. „Wenn es ihnen nicht paßt, sollen sie mich feuern. Kommen Sie heute mittag herauf.“ Paul zögerte. „John, wie lange müssen Sie …?“
„Sechs Wochen. Vorausgesetzt, daß ich ruhig hier sitzenbleibe und Berichte schreibe. Laborarbeit darf ich nicht machen. Ich darf nicht einmal ein Reagenzglas anfassen. Wenn ich brav bin, habe ich sechs Wochen.“
In der zweiten Woche ließ Kussman das Visi abmontieren und verbreitete die Anweisung, die Leute sollten aufhören, Serane zu stören, damit er sich auf seine Berichte konzentrieren könne.
Paul war eine offizielle Ausnahme. Die Patentabteilung hatte die Weisung erhalten, Seranes Labornotizen durchzusehen und sicherzustellen, daß alle seine Erfindungen durch Patentanträge abgedeckt waren. Pflichtschuldigst nahm Paul die Notizbücher aus dem Safe der Bibliothek und begann sie eines nach dem anderen durchzusehen.
Als er die Seiten umblätterte, wußte er, daß er die Bücher noch nie gesehen hatte. Aber gleichzeitig erschienen sie ihm vertraut. Woher? Seit wann?
Und war dies hier alles? Irgendwie kam es ihm so vor, als fehlte etwas. Hatte die Reihe der Aufzeichnungen nicht schon vor 1996 begonnen? Nein, das konnte nicht sein. Am 3. Januar 1996 hieß es: Mein erster Tag … Und dann hatte er es! Wie dumm von ihm! Serane hatte noch den Band von 2006. Den zehnten. Und Paul würde ihn nicht danach fragen.
Trotzdem war da noch etwas Geheimnisvolles an der ganzen Sache.
Langsam und Seite um Seite arbeitete er sich vor, und eine Reihe von Einträgen waren ihm neu. Es waren Arbeiten durchgeführt worden, die niemals in die routinemäßig verteilten Laborberichte Eingang gefunden hatten und die vermutlich nie zu Patentanträgen entwickelt worden waren. Paul stellte einen kompletten Satz von Seranes alten Laborberichten zusammen und verglich diese Berichte mit den Notizen. Er fand Dutzende von Lücken.
Er holte Marggold herbei und zeigte ihm die Dokumente, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte. Marggold war nicht beeindruckt. „Ich habe nie geglaubt, daß die Patentabteilung mit Serane würde Schritt halten können. Aber zumindest scheinen Sie unseren Teil dieser Arbeit damit abgegrenzt zu haben. Es ist eine Menge Arbeit, aber ich schlage vor, daß Sie die Bücher mit Serane zusammen durchgehen, eines nach dem anderen.“
„Werde ich ihn damit in Schwierigkeiten bringen? Kussman läßt ihn Berichte schreiben.“
„Ich rede mit Kussman. Sie machen weiter. Halten Sie es in einem vernünftigen Umfang – sagen wir, etwa eine Stunde täglich.“
Was daraus folgte, war eine Art Orgie. Als erstes jeden Morgen die Diskussion mit Serane. Das Planen der Arbeit. Mittags Schach. Nachmittags dann die Patentanträge diktieren. Für Paul war es eine Phase von manischer Trunkenheit, und er hatte den Eindruck, daß für Serane das Leben dadurch erträglicher gemacht wurde.
Seranes alte Gruppe schwand dahin; seine Mitarbeiter wurden großenteils in andere Abteilungen versetzt. Serane sah es betrübt mit an.
Dr. Quirrel wurde in die Harnstoffproduktion gesteckt. Drei Tage und drei Nächte lang studierte er die Pläne der Anlage. Rasch hatte er die Probleme erfaßt, und er glaubte einige Lösungen anbieten zu können. Er wartete und wartete, aber sein Vorgesetzter stellte ihm keine einzige Frage. Immer wenn der Mann an seinem Tisch vorüberkam, duckte Quirrel sich in seine Papiere, stets in der Hoffnung (und zugleich voller Furcht), ins Freie gedrängt und dort ekstatisch mißhandelt zu werden, so wie Serane es praktiziert hatte. Doch es geschah nicht. Etwas in
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