Der Kaufmann von Lippstadt
der Kaufmann aus Westfalen sein Vermögen mit, mal war er verarmt, mal mit Frau und Kindern, mal von allen verlassen. Aber immer kam er nach Lübeck, weil hier eine Schwester – oder war es eine Tante? – lebte. Am Ende waren alle glücklich und zufrieden, mit oder ohne Vermögen. Oliver erkannte, dass man durchaus aus alten Geschichten etwas lernen konnte: Die eigene Familie ist das Wichtigste.
Nach der Beerdigung der Oma ging die Familie Thielsen zu Olivers Eltern nach Hause. Der Himmel war mit dunklen Wolken verhangen, es regnete ununterbrochen. Drinnen saßen sie bei Kerzenschein, Kaffee und Kuchen und nach einer Weile unterhielten sie sich angeregt. »Erinnert ihr euch an die unterschiedlich großen Socken, die sie mir gestrickt hatte?«, fragte Daniel, Olivers Bruder. »Oder an die gehäkelten Topflappen? Letztens habe ich in einem angesagten Trendladen fast genau die gleichen gesehen. Stellt euch vor, sie sind jetzt top aktuell«, erinnerte sich seine Schwester Svenja. »Am besten gefielen mir ihre Geschichten«, meinte Oliver. »Die Kaufmanns-Geschichte oder auch die mit dem Kapitän, der aus dem Lübecker Hafen nicht mehr fort wollte. Man sollte sie aufschreiben«, überlegte er. Lange hätten sie noch so in Erinnerungen schwelgen können, bis jeder gestrickte Schal, jedes gestickte Bild und jede ihrer Geschichten erwähnt worden waren. Doch Cornelia, Olivers Mutter, hatte etwas anderes auf dem Herzen. »Wir müssen uns um Omas Nachlass kümmern. Da brauche ich eure Hilfe.« Sie blickte Oliver an. »Auch deine. Sie hat immer davon gesprochen, dass du ihren Sekretär nehmen sollst. Oma hat genau festgelegt, wer was bekommen soll.«
Ein paar Tage später schleppte Oliver mit seinem Vater den schweren Sekretär in seine Wohnung. Den Inhalt, nur Papiere, Postkarten und ein paar Fotos, hatten sie zuvor in Schuhkartons umgepackt. Oliver wollte in aller Ruhe sichten, was seine Oma ihm hinterlassen hatte. »Wie gut, dass Imke ausgezogen ist und ihre Möbel mitgenommen hat«, meinte er bitter. »Jetzt habe ich Platz für Omas Sachen.« Seine Ironie wog schwer. Er hatte die Trennung noch lange nicht überwunden.
Am Abend öffnete Oliver eine Flasche Wein, legte eine CD ein und schaute sich alte Fotos von Menschen an, die er nicht kannte. Männer in steifen Anzügen, Frauen in schönen Kleidern, immer in Festtagsstimmung. Alltagsfotos machte früher niemand. Heute knipst man so viele Bilder, dass man den Überblick verliert, dachte er. Die Urlaubsfotos von Imke und ihm hat er auf CD gebrannt. Abzüge auf Fotopapier hat er nicht machen lassen. Nur seine Kinderfotos sind in ein Album eingeklebt und werden die einzigen sein, die es in seinen Nachlass schaffen werden. Auch Briefe werden seine Enkel und Urenkel nicht finden, weil er lieber telefoniert, statt zu schreiben. Und wenn er schreibt, dann sind es E-Mails, die über kurz oder lang gelöscht werden. Von Nachhaltigkeit keine Spur. Wir bringen uns mit unserer Umweltverschmutzung um und löschen auch noch unsere Spuren, dachte Oliver und nahm sich vor, am nächsten Tag die Briefe seiner Oma zu lesen.
In der Nacht schlief Oliver schlecht, aber es war nicht nur der Wein, der ihm zu schaffen machte. Jetzt, nach dem Tod seiner Oma, wurde ihm bewusst, wie sehr er sie geliebt hatte, denn als Kind verbrachte er mit seinen Geschwistern viel Zeit bei ihr. Später, als Jugendlicher und Erwachsener, betonte er immer, sein eigenes Leben führen zu wollen, und kümmerte sich weder um seine Oma noch um andere Familienmitglieder.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag Lübeck immer noch unter einer dicken, dunklen Wolkendecke. Es regnete. Alles war trüb. Auch Olivers Stimmung. Eine ganze Flasche Wein war definitiv zu viel gewesen. Sein Kopf schmerzte. Gut, dass die Vorlesung erst am Nachmittag stattfand. Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich an seinen Sekretär. Es kam ihm falsch vor, sich Omas Papiere genauer anzusehen. Schließlich gab es das Briefgeheimnis, eine preußische Erfindung, wenn man es so nennen mochte. Er blätterte durch die Postkarten. Die mit dem Porträt eines Schwarzwaldmädels drehte er um.
Frau
Margarethe Thielsen
2400 Lübeck
Liebe Margarethe,
wir sind auf dem Feldberg. Es ist ganz
kalt hier.
Viele Grüße an Euch alle,
Gerda
Er steckte die Karte wieder an die richtige Stelle und nahm die nächste. Norderney – eine Dünenlandschaft. Wieder las er › Liebe Margarethe ‹. Wie fremd es ihm vorkam. Natürlich hatte er immer nur
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