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Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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und mir wurde plötzlich bewusst, daß es über Nacht November geworden war. Der Winter war nicht mehr fern, schon wieder ging ein Jahr zu Ende. Ich zog die Rolläden hoch und schaute aus dem Fenster. Der Boden war mit Blütenblättern von meinen Rosen übersät, der Fluß angeschwollen, und die Felsbrocken darin sahen schwarz aus.
    Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen Marino. Mir war letzte Nacht der Kragen geplatzt, und ich hatte ihn ohne ein Bier nach Haus geschickt. Aber ich hatte keine Lust, mit ihm über Angelegenheiten zu sprechen, die er sowieso nicht verstand.
    Für ihn lag der Fall klar. Ich war geschieden. Benton Wesleys Frau hatte ihn wegen eines anderen verlassen. Wir hatten seit geraumer Zeit eine Affäre, also konnten wir ebensogut heiraten. Eine Weile war ich diesem Kurs auch gefolgt. Vergangenen Herbst und Winter waren Wesley und ich Skilaufen gefahren, hatten Tauchurlaub und Einkaufsbummel gemacht, zusammen gekocht und sogar gemeinsam meinen Garten gepflegt. Aber wir kamen schlicht nicht miteinander zurecht.
    Letztlich wollte ich ihn ebensowenig in meinem Haus haben, wie ich es ertragen konnte, daß Marino auf meinem Stuhl saß. Wenn Wesley ein Möbelstück verrückte oder auch bloß Geschirr in den falschen Schrank stellte oder Tafelsilber in die falsche Schublade legte, überkam mich zu meiner Überraschung und Bestürzung eine stille Wut. Ich hatte, als er noch verheiratet war, unsere Beziehung zwar nie für korrekt gehalten, aber damals hatten wir einfach mehr Spaß miteinander, vor allem im Bett. Ich fürchtete, daß meine Unfähigkeit, zu empfinden, was ich selbst oder andere womöglich von mir erwarteten, eine Charaktereigenschaft an mir offenbarte, die ich nicht wahrhaben wollte.
    Gnadenlos trommelte der Regen aufs Wagendach, als ich mit hektisch hin- und herschnellenden Scheibenwischern zur Arbeit fuhr. Noch waren nicht viele Autos auf den Straßen unterwegs, denn es war erst kurz vor sieben. Nach und nach kam im wäßrigen Nebel die Skyline von Richmond in Sicht.
    Ich musste wieder an das Foto denken, daran, wie es sich langsam auf meinem Bildschirm aufgebaut hatte. Ein kalter Schauer überlief mich, und die Haare an meinen Armen stellten sich auf. Mit einem Mal kam mir der Gedanke, daß die Person, die mir das Bild geschickt hatte, vielleicht jemand war, den ich kannte, und mich befiel eine undefinierbare Angst.
    Ich nahm die Ausfahrt Seventh Street und fuhr den gewundenen Shockoe Slip mit seinem nassen Kopfsteinpflaster entlang, vorbei an den trendigen Restaurants, die um diese Zeit geschlossen hatten, und an Parkplätzen, die sich gerade erst zu füllen begannen. Als ich in die Einfahrt hinter dem viergeschossigen Bürogebäude einbog, in dem ich arbeitete, stellte ich fassungslos fest, daß mein Parkplatz trotz des unübersehbaren CHIEF MEDICAL EXAMINER Schilds von einem Übertragungswagen des Fernsehens besetzt war. Das Nachrichtenteam wusste ganz genau, daß ich früher oder später dort auftauchen würde.
    Als ich dichter heranfuhr und ihnen bedeutete, sie sollten wegfahren, glitt die Tür des Transporters auf. Ein Kameramann in Regenkleidung sprang heraus und kam mit einer mikrofonbewehrten Reporterin im Schlepptau auf mich zu.
    Ich ließ mein Fenster ein paar Zentimeter herunter.
    »Weg da«, sagte ich alles andere als freundlich. »Sie stehen auf meinem Parkplatz.«
    Nichts passierte. Statt dessen stieg noch ein Mensch mit Scheinwerfern aus dem Wagen. Starr vor Wut saß ich einen Moment lang da und glotzte die Leute an. Die Reporterin blockierte meine Tür und stieß ihr Mikrofon durch den Fensterschlitz.
    »Dr. Scarpetta, stimmt es, daß der Schlächter wieder zugeschlagen hat?« fragte sie laut, während die Kamera lief und die Scheinwerfer brannten.
    »Fahren Sie Ihren Wagen weg«, sagte ich ihr mit eiserner Ruhe ins Gesicht und in die Kamera.
    »Ist es wahr, daß man einen weiteren Rumpf gefunden hat?«
    Regenwasser lief von ihrer Kapuze herunter, während sie das Mikro weiter in den Wagen hineinschob.
    »Ich bitte Sie jetzt zum letzten Mal, Ihren Wagen von meinem Parkplatz zu entfernen«, sagte ich, wie ein Richter, der drauf und dran ist, jemand wegen Mißachtung des Gerichts zu verdonnern. »Der hat hier nichts zu suchen.«
    Der Kameramann wählte eine neue Perspektive und zoomte mich heran. Unbarmherziges Scheinwerferlicht blendete mich.
    »Wurde die Leiche auf die gleiche Weise zerstückelt wie die anderen ?«
    Sie riss das Mikrofon gerade noch rechtzeitig weg, bevor

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