Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
neuen Kartonbergen und ging den Flur hinunter zu meinem Büro. Wie üblich sah mein Schreibtisch so aus, als sei eine Lawine darauf niedergegangen.
    Ich schaute noch einmal nach E-Mail. Fast rechnete ich mit einer weiteren Mail von einem anonymen Absender, aber es waren die gleichen Nachrichten wie gestern. Ich überflog sie und verschickte kurze Antworten. Die Mail von deadoc harrte still in meiner Mailbox, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie und die dazugehörige Bilddatei zu öffnen.
    Ich war so konzentriert, daß ich nicht hörte, wie Rose hereinkam.
    »Ich glaube, Noah hätte lieber noch eine zweite Arche bauen sollen«, sagte sie.
    Ich schrak hoch und sah sie in der Tür stehen, die mein Büro mit ihrem verband. Sie wollte gerade ihren Regenmantel ausziehen und machte ein besorgtes Gesicht.
    »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte sie. Zögernd trat sie ein und sah mich scharf an.
    »Ich wusste, daß Sie herkommen würden, anstatt auf mich zu hören«, sagte sie. »Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
    »Was tun Sie so früh hier?« fragte ich.
    »Ich hatte so ein Gefühl, daß Sie alle Hände voll zu tun haben würden.« Sie legte ihren Regenmantel ab. »Haben Sie heute morgen schon die Zeitung gesehen?«
    »Noch nicht.«
    Sie öffnete ihre Handtasche und nahm ihre Brille heraus.
    »Dieses ganze Gerede über den Schlächter. Sie können sich ja vorstellen, was da los ist. Auf dem Weg hierher habe ich in den Nachrichten gehört, daß massenhaft Schusswaffen verkauft werden, seit diese Mordserie begonnen hat. Ich frage mich manchmal, ob hinter so etwas nicht die Waffenhandlungen stecken. Erst jagen sie uns eine Mordsangst ein, damit wir dann alle wie die Irren losrennen und uns eine 38er oder eine halbautomatische Pistole kaufen.«
    Rose hatte stahlgraue Haare, die sie immer hochgesteckt trug. Ihre scharfen Gesichtszüge hatten etwas Aristokratisches. Es gab nichts, was sie nicht schon gesehen hatte, und niemanden, vor dem sie sich fürchtete. Ich wusste, wie alt sie war, und lebte daher in der ständigen Furcht, daß sie sich pensionieren ließ. Sie brauchte nicht für mich zu arbeiten.
    Sie blieb nur, weil sie eine gute Seele war und zu Hause niemanden mehr hatte.
    »Sehen Sie sich das mal an«, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück.
    Sie kam auf meine Schreibtischseite herüber und stellte sich so dicht neben mich, daß mir White Musk in die Nase stieg, der Duft sämtlicher Produkte, die sie sich im Bodyshop zusammenmischte, dem Laden der Tierversuchsgegner. Rose hatte kürzlich den fünften altersschwachen Greyhound bei sich aufgenommen. Sie züchtete Siamkatzen, besaß mehrere Aquarien und wollte jedem, der einen Pelz trug, am liebsten an die Gurgel gehen. Sie starrte auf meinen Computerbildschirm und schien nicht ganz zu begreifen, was sie da vor sich hatte. Dann wurde sie plötzlich ganz steif.
    »Mein Gott«, murmelte sie und sah mich über den Rand ihrer Bifokalbrille hinweg an. »Ist das das, was unten im Kühlraum liegt?«
    »Eine frühere Version davon, glaube ich«, sagte ich. »Ich habe es über AOL bekommen.«
    Sie schwieg.
    »Selbstverständlich verlasse ich mich darauf«, fuhr ich fort, »daß Sie hier aufpassen wie ein Luchs, solange ich unten bin. Sobald irgend jemand die Lobby betritt, den wir nicht kennen oder nicht erwarten, möchte ich, daß der Sicherheitsdienst ihn aufhält. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, rauszugehen und die Leute zu fragen, was sie wollen.«
    Ich sah sie eindringlich an, schließlich kannte ich sie nur zu gut.
    »Sie glauben, er würde hierherkommen?« bemerkte sie sachlich.
    »Ich weiß selbst nicht, was ich glauben soll, außer, daß er offenbar das Bedürfnis hatte, Kontakt mit mir aufzunehmen.«
    Ich schloss die Datei und stand auf. »Und das hat er getan.«
    Um kurz vor halb acht rollte Wingo den Leichnam auf die Bodenwaage, und wir begannen mit der Untersuchung, von der ich wusste, daß sie äußerst langwierig und gründlich sein würde. Der Rumpf wog einundzwanzig Kilo und war dreiundfünfzig Zentimeter lang. Rückwärtig fanden sich schwache Totenflecken. Da das Blut, wenn es zu zirkulieren aufhört, der Schwerkraft gehorcht, bedeutete das, daß sie nach Eintritt des Todes stunden oder tagelang auf dem Rücken gelegen hatte. Ich konnte sie nicht anschauen, ohne das grausige Bild auf meinem Monitor vor mir zu sehen, und war mir immer sicherer, daß es sich um ein und denselben Rumpf handelte.
    »Was

Weitere Kostenlose Bücher