Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Keim des Verderbens

Der Keim des Verderbens

Titel: Der Keim des Verderbens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
glauben Sie, wie groß sie war?« Wingo warf mir einen kurzen Blick zu, während er die Bahre parallel zum ersten Autopsietisch abstellte.
    »Wir werden ihre Größe anhand der Höhe der Lendenwirbelkörper schätzen, da wir ja weder auf Schienbeine noch auf Oberschenkelknochen zurückgreifen können«, sagte ich, während ich eine Plastikschürze über meinen Kittel band.
    »Aber sie wirkt klein. Geradezu schwächlich.«
    Kurz darauf waren die Röntgenaufnahmen entwickelt, und er hängte sie an Leuchtkästen. Was ich sah, erzählte eine Geschichte, die keinen Sinn zu ergeben schien. Die Kanten der Schambeinfuge, dort, wo ein Schambein ans andere grenzt, waren nicht mehr uneben und zerfurcht wie in der Jugend.
    Die Knochen waren vielmehr schwer erodiert und hatten unregelmäßige, aufgebogene Ränder. Auf weiteren Röntgenaufnahmen war zu sehen, daß die Rippen dort, wo sie ans Brustbein ansetzten, unregelmäßige Wucherungen aufwiesen. Die Knochen selbst waren sehr dünnwandig und scharfkantig, und im Bereich von der Lendenwirbelsäule bis zum Kreuzbein fanden sich ebenfalls degenerative Veränderungen. Wingo war kein Anthropologe, aber auch ihm konnte das Offensichtliche nicht entgehen.
    »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, daß wir ihre Aufnahmen mit denen von jemand anders vertauscht haben«, sagte er.
    »Das hier ist eine alte Frau«, sagte ich.
    »Wie alt würden Sie sie schätzen?«
    »Ich schätze nicht gern.« Ich studierte ihre Röntgenbilder. »Aber ich würde sagen, mindestens siebzig. Auf jeden Fall zwischen fünfundsechzig und achtzig. Kommen Sie. Wir nehmen uns erst mal den Müll vor.«
    Die nächsten zwei Stunden verbrachten wir damit, einen großen Müllbeutel voll Abfall zu durchsuchen, der auf der Deponie direkt unter der Leiche und um sie herum gelegen hatte. Der Müllbeutel, in dem sie vermutlich gesteckt hatte, faßte hundertzwanzig Liter, war schwarz und mit einem gezahnten gelben Plastikstreifen verschlossen gewesen. Mit Masken und Handschuhen ausgerüstet, wühlten Wingo und ich uns durch Reifenspäne und Schaumstoffwatte aus Möbelpolstern. Beides wurde auf der Mülldeponie als Abdeckmaterial benutzt. Wir untersuchten zahllose schmierige Plastik- und Papierfetzen, sammelten Maden und tote Fliegen ab und warfen sie in einen Karton.
    Unsere Ausbeute war bescheiden: ein blauer Knopf, der wahrscheinlich in keiner Beziehung zu unserem Fall stand, und - eigentümlicherweise - ein Kinderzahn. Wir fanden einen deformierten Kamm, eine plattgedrückte Batterie, mehrere Porzellanscherben, einen verbogenen Drahtbügel und die Kappe eines Bic-Kugelschreibers. Das meiste - Gummischnipsel, Schaumstoffwatte, schwarze Plastikfetzen und durchweichtes Papier - landete jedoch im Mülleimer.
    Dann bauten wir helle Scheinwerfer um den Tisch herum auf und legten den Leichnam auf ein sauberes weißes Laken.
    Zentimeter für Zentimeter suchte ich sie mit einer Lupe ab.
    Ihr Körper war eine Müllhalde mikroskopisch kleiner Abfälle. Mit einer Pinzette sammelte ich blasse Fasern von dem dunklen, blutigen Stumpf, der einmal ihr Hals gewesen war, und auf ihrem Rücken fand ich drei grauweiße Haare, etwa fünfunddreißig Zentimeter lang, die an getrocknetem Blut klebten.
    »Ich brauche noch einen Umschlag«, sagte ich zu Wingo, denn ich war auf etwas anderes gestoßen, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
    An den Enden beider Oberarmknochen und auch an den Muskelrändern darum herum hafteten weitere Fasern und winzige Fragmente eines hellblauen Stoffes. Das bedeutete, daß die Säge durch diesen Stoff hindurchgegangen sein mußte.
    »Sie war bekleidet oder in irgend etwas eingewickelt, als sie zerstückelt wurde«, sagte ich bestürzt.
    Wingo unterbrach seine Tätigkeit und sah mich an. »Das war bei den anderen nicht der Fall.«
    Jene Opfer waren dem Anschein nach nackt gewesen, als sie zersägt wurden. Er machte weiter Notizen, während ich, die Lupe vorm Auge, mit meiner Suche fortfuhr.
    »Auch an beiden Oberschenkelknochen haften Fasern und Stoffetzen.« Ich sah genauer hin.
    »Demnach war sie auch von der Taille abwärts bekleidet oder bedeckt?« fragte er.
    »Sieht ganz so aus.«
    »Dann hat der Täter sie also erst zerstückelt und danach ausgezogen?« Erschüttert von der Vorstellung sah er mich an.
    »Er wollte natürlich nicht, daß wir ihre Kleidung finden. Die hätte uns zu viele Hinweise geben können«, sagte ich.
    »Warum hat er sie dann nicht gleich ausgezogen, ausgewickelt oder was

Weitere Kostenlose Bücher