Der Keim des Verderbens
dachte ich, das sei die IRA gewesen. Außer bei Bombenanschlägen hatte ich noch nie einen derart zerfetzten Leichnam gesehen.«
Es war mir gar nicht recht, auf solche Weise an Mark erinnert zu werden. Ich musste an die Zeit denken, als er noch am Leben war und wir uns liebten. Plötzlich sah ich ihn wieder vor mir. Er lächelte, und in seinen Augen war dieser strahlende Glanz, der schelmisch aufblitzte, wenn er lachte und mich neckte. Wir hatten an der juristischen Fakultät in Georgetown viel Spaß miteinander gehabt, leidenschaftlich diskutiert und unzählige Nächte durchgemacht. Unser Verlangen nacheinander war unstillbar. Im Lauf der Zeit heirateten wir andere Menschen, ließen uns wieder scheiden und versuchten es von neuem miteinander. Er war mein Leitmotiv - mal da, mal fort, dann wieder am Telefon oder vor meiner Tür, um mir das Herz zu brechen und mein Bett zu zerwühlen.
Ich kam einfach nicht von ihm los. Ich konnte es immer noch nicht glauben, daß ein Bombenanschlag auf einen Londoner Bahnhof das Ende unserer stürmischen Beziehung gewesen sein sollte. Die Vorstellung, daß er tot war, war für mich nicht fassbar, denn es gab kein letztes Bild, das mir Frieden geben konnte. Ich hatte nie seinen Leichnam gesehen, hatte vor jeglicher Gelegenheit, ihn mir anzuschauen, Reißaus genommen, genau wie der alte Dubliner, der den Anblick seines Sohns nicht ertragen konnte. Mir wurde bewusst, daß Foley etwas zu mir sagte.
»Tut mir leid«, wiederholte sie mit traurigem Blick, denn sie kannte die ganze Geschichte. »Ich wollte keine unangenehmen Erinnerungen wachrufen. Du wirkst heute morgen schon melancholisch genug.«
»Das ist interessant, was du eben gesagt hast.« Ich versuchte, tapfer zu sein. »Ich schätze, der Mörder, nach dem wir suchen, ist einem Bombenattentäter gar nicht unähnlich. Es ist ihm egal, wen er tötet. Seine Opfer sind Menschen ohne Gesichter und ohne Namen. Sie sind nichts als Symbole seines persönlichen grausamen Credos.«
»Wäre es dir sehr unangenehm, wenn ich dich etwas wegen Mark fragen würde?« sagte sie.
»Frag, was du willst.« Ich lächelte. »Du tust es ja sowieso.«
»Warst du jemals dort, wo es passiert ist? Hast du den Ort besucht, an dem er gestorben ist?«
»Ich weiß nicht, wo es passiert ist«, antwortete ich schnell.
Rauchend sah sie mich an.
»Ich meine, ich weiß nicht, wo genau auf dem Bahnhof«, wand ich mich und fing fast an zu stottern.
Sie sagte immer noch nichts und zerdrückte die Zigarette unter ihrem Fuß.
»Soweit ich mich erinnere«, fuhr ich fort, »bin ich seit seinem Tod nicht mehr in Victoria gewesen, jedenfalls nicht auf dem Bahnhof. Ich glaube, es gab keinen Grund, von dort aus einen Zug zu nehmen. Oder dort anzukommen. Zuletzt war ich, glaube ich, in Waterloo.«
»Der einzige Tatort, den zu besichtigen die große Dr. Kay Scarpetta sich weigert.« Sie klopfte eine weitere Consulate aus der Packung. »Möchtest du eine?«
»Und wie. Aber ich darf nicht.«
Sie seufzte. »Das erinnert mich an Wien. All diese Männer dort, und wir beide haben mehr geraucht als sie alle zusammen.«
»Wahrscheinlich haben wir wegen all der Männer soviel geraucht«, sagte ich.
»Kann sein. Für mich scheint es jedenfalls keine Heilung zu geben. Das zeigt nur mal wieder, daß unser Handeln sich nicht danach richtet, was wir wissen, und daß unsere Gefühle keinen Verstand haben.« Sie schüttelte ein Streichholz aus.
»Ich habe Raucherlungen gesehen. Und ich habe jede Menge Fettlebern gesehen.«
»Meinen Lungen geht es besser, seit ich aufgehört habe. Für meine Leber möchte ich lieber nicht die Hand ins Feuer legen«, sagte ich. »Den Whiskey hab' ich noch nicht aufgegeben.«
»Um Gottes Willen, tu das bloß nicht. Dann hätte man ja gar keinen Spaß mehr mit dir.« Sie hielt inne und fügte dann mit Nachdruck hinzu: »Natürlich lassen sich Gefühle lenken, dressieren, so daß sie sich nicht gegen uns verschwören.«
»Ich werde wahrscheinlich morgen fliegen«, kehrte ich wieder zum Thema zurück.
»Du musst in London umsteigen.« Sie sah mir in die Augen.
»Bleib ein bisschen dort. Einen Tag.«
»Wie bitte?«
»Du musst die Sache zu Ende bringen, Kay. Das spüre ich schon lange. Du musst Mark James begraben.«
»Margaret, wie kommst du denn plötzlich darauf?« Ich geriet schon wieder ins Stottern.
»Ich merke doch, wenn jemand vor etwas wegläuft. Und das tust du, ganz genau wie dieser Mörder.«
»Na, das klingt ja tröstlich«,
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