Prolog
Paris,1. April
Also, es gab überhaupt keinen Grund, in Panik zu geraten. Alles war in bester Ordnung. Solange Daisy nur die Augen noch ein klein wenig länger geschlossen hielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das alles nur ein Traum. Aber vielleicht sollte sie doch ein Auge einen winzigen Spalt öffnen, nur um sicher zu sein. Na gut, gaaanz langsam... Jawohl, genau wie sie gedacht hatte. Sie stand tatsächlich im Abendkleid auf dem Dach der Pariser Oper und schaute auf ein wogendes Lichtermeer hinab. Daisy blickte zu den kalten Aprilsternen auf. Es war wie auf dem Mond. Und dieses Dach war so verdammt glitschig. Sie konnte kaum das Gleichgewicht halten. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass sie vorhin bei dem üblen Streit mit dieser französischen, äh, Hexe ihre Schuhe verloren hatte. Hohe Absätze wären hier oben nicht gerade hilfreich.
Also, um es zusammenzufassen: Das hier war kein Traum. Sie saß lediglich ein bisschen in der Klemme, das war alles. Daisy zwang sich, tief durchzuatmen, und stemmte sich fest gegen die Tür. Doch es nützte nichts, die Tür war abgeschlossen. Die französische Hexe hatte sie tatsächlich ausgesperrt. Daisy spürte, wie ihr vor Wut die Tränen in die Augen stiegen. Und was diesen verlogenen Dreckskerl angeht, dachte sie, warte nur, bis ich den in die Finger kriege – ich erwürge ihn! Bei näherem Nachdenken erschien es ihr jedoch klüger, nicht wild in die Luft zu boxen; dabei könnte sie nur allzu leicht den Halt verlieren. Sie hockte sich
hin – nicht ganz einfach in einem Mini-Reifrock und einem Walbein-Korsett -, lehnte sich gegen die Tür und atmete abermals tief durch. Während sie auf die glitzernden Boulevards hinunterstarrte, die in alle Richtungen vom Place de l’Opéra wegführten, gestattete Daisy sich einen Augenblick der wehmütigen Bewunderung. Sie hatte schon immer gewusst, dass diese Stadt genau das Richtige für sie war. Daisy Keen, die Fashion Queen in Paris: Es war eine Fügung des Himmels gewesen! Und wo war sie jetzt gelandet, nachdem sie es irgendwie geschafft hatte, alles an diesem Ort und an den Menschen, die hier lebten, falsch zu verstehen? Sie war wirklich ein einziger großer Aprilscherz, dachte Daisy traurig. Und Isabelles Leben war jetzt ebenfalls ruiniert. Das Ganze war eine einzige Katastrophe.
Dabei hatte sie die Idee mit dem Wohnungstausch anfangs einfach nur genial gefunden, damals, vor einem Jahr...
Schneller, schneller, sonst würden sie es niemals rechtzeitig schaffen, dachte Isabelle, als der Motorroller schwankend durch die Straßen hinter dem Place des Victoires kurvte. Sie klammerte sich noch fester und blickte sich um, ob die anderen auch folgten. Zuerst dachte sie, sie hätten sie verloren, doch dann konnte sie auch die anderen erkennen: eins, zwei, drei... insgesamt acht schwarz gekleidete Gestalten. Auf schwarzen Motorrollern wanden sie sich im Zickzack zwischen den spätabendlichen Taxis und Bussen hindurch. Jetzt dröhnten sie alle die Avenue de l’Opéra hinauf; das hell erleuchtete Opernhaus lag vor ihnen wie eine riesige Torte, mit seiner reich verzierten Fassade, dem grünen Kuppeldach und den schimmernden Statuen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Isabelle, dass ein paar von den anderen zu ihnen aufschlossen. So nervös sie auch war, brachte Isabelle doch ein kleines Lächeln zustande. Sie war stolz auf ihre Freunde.
Eine letzte Runde um den Platz, und die ganze Truppe hielt vor den Stufen des Opernhauses. Sie sprangen von ihren Rollern und hasteten auf die Mitteltür zu. Isabelle sah, dass sie erwartet wurden. Die Tür flog auf, und sie eilten wie eine Schwadron Racheengel in ihren engen schwarzen Overalls die große Treppe hinauf. Sie durften keine Zeit verlieren. Nicht eine Sekunde.
Ein Jahr vorher
1
Isabelle
Näher als in den ersten E-Mails, in denen sie sich über ihren Wohnungstausch geeinigt hatten, waren Isabelle und Daisy sich nie gekommen.
WOHNUNGSTAUSCH. Seriöse, zuverlässige junge Französin möchte ab Anfang Juli für ein Jahr Wohnung in Paris (linkes Seine-Ufer) gegen ähnliche Wohnmöglichkeit (ruhige Lage bevorzugt) in London tauschen. Kontakt:
[email protected] Von:
[email protected]An:
[email protected]Salut Isabelle!
Je suis une fille anglaise avec un grand maison à Londres. Et je voudrais tellement échanger avec toi! Cela serait fantastique! Je partage avec mes deux »Mitbewohner« (ils louent une partie du maison), Chrissie et Jules, ils sont