Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
einziges Mittel der Verteidigung von den hungrigen Wellen verschlungen.
Nun hatte er nur noch den kostbaren Kelch.
Das schwere goldene Gefäß mit den beiden Steinen, die von unschätzbarem Wert waren, hatte sich bereits bei der Überfahrt als Bürde erwiesen. Doch von diesem Schatz würde Rand sich niemals trennen. Selbst dann nicht, wenn sein eigenes Leben auf dem Spiel stand.
Er brachte die schmerzenden Arme in Bewegung, schwamm los und versuchte mit dem Mut der Verzweiflung, sich über den tosenden Wogen zu halten. Der Schatz, den er bei sich trug – das Werkzeug seiner nahenden Vergeltung – würde ihn bis zum nächsten Küstenstreifen begleiten … oder für immer mit ihm auf den kalten Meeresgrund sinken.
2
Sonnenstrahlen fluteten durch die dichten Laubkronen und ließen die frischen grünen Blätter, die in der leichten Sommerbrise raschelten, in goldenem Licht erscheinen. Der Morgen dämmerte in zarten Rosa- und Bernsteintönen, die von den dünnen Wolkenbändern am hellblauen Himmel jenseits des Waldgrundes eingefangen wurden. Das Huschen der Waldtiere, die bei Anbruch des Tages im Unterholz nach Nahrung suchten, vermischte sich mit dem Tschilpen der Singvögel, während weiter oben auf dem dicken Ast einer uralten, ausladenden Eiche ein Taubenpärchen gurrte.
»Euch beiden einen guten Morgen«, rief eine junge Frau, die dem Verlauf eines schmalen Pfades folgte, der sich durch den Wald schlängelte.
Die Finger in weiche Lederhandschuhe gehüllt, raffte sie die Röcke ihres einfachen, ungebleichten Bliauts und ging weiter. Tau glitzerte auf ihren bloßen Füßen, und noch immer war der Boden nass von dem Unwetter, das am Abend zuvor losgebrochen war. Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich heftiger Sturm war über das Land hinweggefegt. Grelle Blitze, gefolgt von schweren Donnerschlägen, hatten sich wie gelbe Bänder über das pechschwarze Firmament gezogen. Das Gewitter war furchteinflößend gewesen. Ihre Mutter hatte um ihr Leben gebangt und vor Angst aufgeschrien, wenn wieder einmal ein Donnerschlag die ärmliche Kate hatte erzittern lassen.
Doch Serena war diese Furcht fremd.
Insgeheim hatte sie sich an der Wucht des Unwetters berauscht. Hier draußen in der geradezu heiligen Abgeschiedenheit des großen Waldes, in dem sie seit inzwischen neunzehn Jahren lebte, ereignete sich sonst wenig Ungewöhnliches. Hier war sie sicher, und obwohl sie die friedliche Stille des einfachen, beschaulichen Lebens genoss, das sie zusammen mit ihrer geliebten Mutter führte, regte sich seit Kurzem etwas Eigenartiges in ihr. Beunruhigende Gedanken kamen ihr in den Sinn, und sie verspürte ein Sehnen nach Küstenstreifen, die wilder als die sandige Bucht waren, die sich auf der anderen Seite des Waldgrundes erstreckte.
Zu ebendiesem, ihr so vertrauten Strand wanderte Serena in diesem Augenblick, während ihre Gedanken um die immer gleichen Aufgaben kreisten, die sie später an der Waldhütte noch zu erledigen hatte. Sie musste Kräuter rebeln, Unkraut im Garten zupfen, Leinenwäsche waschen, die Hütte ausfegen …
Das war der tägliche Ablauf, wie sie sich mit einem Seufzer bewusst machte. Vor Stunden schon hatte ihre Mutter sie an die morgendlichen Pflichten erinnert. Doch sowie Calandras wachsame Augen auf etwas anderes gerichtet waren, hatte Serena die Gelegenheit genutzt, um ein wenig durch den Wald zu streifen, auf der Suche nach einer willkommenen Ablenkung. Das dumpfe Rauschen der Brandung verhieß Abenteuer, daher hielt Serena schnellen Schrittes auf die Küste zu.
Sowie sie den Waldrand durchbrach, blieb sie stehen, schloss die Augen, hob ihr Gesicht der Sonne entgegen und atmete genießerisch die herbe, salzige Seeluft ein. Ihre Zehen versanken langsam in dem warmen, grobkörnigen Sand, der sich nach dem wolkenbruchartigen Regen, der die ganze Nacht über niedergegangen war, noch nass und fest anfühlte.
Die grenzenlose Weite der Welt breitete sich vor ihren Augen aus. Serena trug ihr langes dunkles Haar offen, sodass der Wind hineinfuhr und ihr einzelne Strähnen spielerisch ins Gesicht wehte. Sie hörte den heiseren Schrei eines Seevogels, öffnete die Augen und entdeckte eine schneeweiße Möwe, die über ihrem Kopf kreiste. Serena erfreute sich an dem kühnen Flug des Vogels und lächelte, als die Möwe scheinbar mühelos den Winden trotzte und die Freiheit des leeren Küstenstreifens mit weit ausgestreckten Schwingen ausnutzte. Weiter hinten schwappten die gischtgekrönten Wellen an den Strand
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