Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
ihr nicht vergönnt, denn da machte der Fremde bereits einen Satz in ihre Richtung. Serena schrie vor Angst, konnte sich seinem Griff aber gerade noch entziehen. Sie schlug mit dem Lederbeutel nach ihm und hörte, wie das nasse Leder seine Wange traf, ehe sie dem Mann mit einer geschickten Drehung auswich.
Sämtliche Warnungen ihrer Mutter wirbelten ihr nun im Kopf herum: all die mahnenden Worte, mit denen Calandra sie vor dem groben, gefühlskalten Wesen der Männer gewarnt hatte. Was war sie doch für eine Närrin, dass sie auch nur einen Augenblick lang an ihrer Mutter gezweifelt hatte!
Serena lief den Strand hinauf, aber der Mann war hinter ihr. Seine Schritte klangen schleppend, er schwankte leicht vor Erschöpfung und kam in dem tiefen Sand nur schwer voran. Dennoch blieb er ihr auf den Fersen. Schließlich hatte er sie eingeholt. Eine feste, schwere Hand legte sich um ihre Schulter und brachte Serena aus dem Gleichgewicht. Der Fremde riss sie herum, und seine Zähne blitzten im Halbdunkel auf. Zischend entwich ihm der Atem.
»Warum läufst du vor mir fort, wenn du nichts vor mir zu verbergen hast, Frau?«
»Lasst mich los!«
Serena versuchte, sich dem harten Griff zu entziehen, doch es gelang ihr nicht. Fest umklammerte er ihre Schultern und starrte sie böse an. Ehe sie sich recht besann, hob sie schützend die Hände und stemmte sich gegen seine harte Brust.
Heilige Muttergottes!
Sie berührte ihn.
Sie berührte ihn ohne die schützende Schicht der ledernen Handschuhe.
Sogleich brachen die Wahrnehmungen über sie herein, ein wahrer Gefühlssturm erfasste sie. Dort, wo sie mit ihren Handflächen gegen seinen Oberkörper drückte, verspürte sie eine sengende Hitze, die eine erwachende Klarsicht mit sich brachte. Zu sehr von den Empfindungen vereinnahmt und von der Macht ihrer Gabe überwältigt, vermochte sich Serena nicht zu rühren und schaute nur stumm in die zornigen Gesichtszüge des Fremden. Durch die Berührung nahm sie all den Zorn und Hass in seinem Herzen wahr – blickte gleichsam in die Seele dieses Mannes.
Zorn.
Zerstörung.
Blutvergießen.
Seelenqualen.
Die Leere im Herzen.
Rache.
So viel Schmerz konnte man nicht ertragen. Sie atmete schnell und flach, als sie sich von den schwarzen Gefühlen umgeben sah. Es zehrte an ihrer Kraft, drohte sie wie eine böse Seuche zu vernichten, rasch und unbarmherzig. Serena spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Eine Flut aus Schmerz und Gewalt brach über sie herein, die sie nicht aufzuhalten vermochte. Die aufgewühlten Gefühle, die wie ein Sturm in diesem Mann tosten, strömten in sie hinein, als gehörten sie auch zu ihr.
»Beim Allmächtigen, was ist mit dir?«
Die Worte des Fremden erreichten sie wie aus weiter Ferne. Er schüttelte sie, doch dadurch geriet sie auf ihren schwachen Beinen umso stärker ins Schwanken. Sie konnte sich nicht mehr halten. Ihr Denken setzte aus. Sie war nicht mehr in der Lage, ihn zu bitten, sie loszulassen. Die Gabe der Ahnung hatte sie vollends vereinnahmt, erbarmungslos und unnachgiebig.
Schatten drängten sich in ihr Blickfeld …
Das Gesicht des Fremden verschwamm vor ihren Augen, und dann spürte sie, wie sie kraftlos gegen die Brust des Mannes sackte.
Rand stieß einen unwirschen Laut aus, sah er sich doch nun gezwungen, die Frau aufzufangen, die ihm ohnmächtig in die Arme sank. Seine Finger schlossen sich um ihren zierlichen Leib. Er spürte ihre warme, weiche Haut und ihre weiblichen Rundungen, die von dem dünnen Gewebe nur unzureichend verdeckt wurden. Kleine, feste Brüste drückten gegen seine bloße Brust und lösten ein plötzliches, unbestimmtes Empfinden in ihm aus.
Doch der Zorn überschattete sein Gefühl.
Zierliches weibliches Geschöpf hin oder her, diese Frau hatte ihr kaltes Herz gezeigt, als sie ihn hilflos bei steigender Flut am Strand zurückgelassen hatte, zum Sterben verdammt. Und wenn sich Empfindungen in ihm regten, da er die junge Frau in Armen hielt, so waren sie von Misstrauen und Argwohn bestimmt. Und von Zorn. Schroff schob er sie von sich und hielt sie unterhalb ihrer schlaffen Arme fest.
»Wach auf, Frau.«
Bei dem strengen Befehl zuckte sie zusammen, konnte den Kopf jedoch nicht heben. Ihr langes ebenholzfarbenes Haar fiel ihr wie ein glänzender Schleier bis über die Hüften, eine Fülle seidiger Pracht, die erzitterte, als Rand sie heftig schüttelte.
»Schau mich an«, befahl er, denn für weibliche Ohnmachtsanfälle hatte er nichts übrig – zumal ihm
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