Der Kelch von Anavrin: Geheimnisvolle Gabe (German Edition)
Hart schlug sie auf dem feuchten Sand auf, wo ihre Tochter wie benommen mit untergeschlagenen Beinen hockte. Ihr dunkles Haar fiel ihr über das nach unten gewandte Gesicht; die Arme hatte sie schützend um ihre Taille geschlungen und wippte leicht vor und zurück.
»Serena! Oh, Himmel. Was hat er dir angetan?«, rief die Frau und wandte sich kurz von Rand ab. Sie hatte die Blutspuren auf dem Hemd ihrer Tochter gesehen, die allerdings von Rands Wunden stammten. Im schwachen Mondlicht sahen die Flecken schwarz aus und hoben sich von dem weißen Gewebe auffällig ab. Die Mutter unterdrückte ein schweres Seufzen. Ihre anklagenden Augen huschten erneut zu Rand hin und verengten sich zu gefährlichen Schlitzen, als wolle sie ihn mit ihrem Blick durchbohren. »Was habt Ihr mit ihr gemacht – Ihr mit Euren groben Händen!«
Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern stürzte sich abermals auf ihn, die Finger wie Krallen gekrümmt. Rand überwältigte sie mühelos und hielt ihr den kleinen Dolch an die Kehle. Furchtsam schielte sie auf die Klinge, doch dann entdeckte sie die Kratzspuren und Schnittwunden, die sich kreuz und quer über seine bloßen Arme zogen. Nun wurde sie nachdenklich.
»Ich habe gar nichts gemacht, Frau. Ich wollte nur wissen, warum ich heute am Strand zurückgelassen wurde. Und warum diese junge Frau – Eure Tochter, wie es scheint – mir meine Habseligkeiten weggenommen hat, als ich zu schwach war, sie daran zu hindern.«
Etwas regte sich in dem eiskalten Blick der Mutter. War das gar ein Schuldgeständnis?
»Sie hat nur das getan, was ich ihr aufgetragen habe. Wenn Ihr denjenigen strafen wollt, der Euch die Hilfe verweigerte, dann wendet Euch an mich. Nicht an sie. Serena hat Euch am Strand zurückgelassen, da ich es ihr befohlen hatte. Sie hat lediglich meinen Wunsch befolgt.«
Zwar nahm Rand diese kühn gesprochenen Worte mit düsterer Miene auf, aber er hatte doch das Gefühl, dass die Frau die Wahrheit sagte. »Ist es demnach Sitte bei Euch, denen, die in Not sind, jegliche Hilfe zu verweigern?«
»Unsere Sitten gehen Euch nichts an«, erwiderte sie unerwartet trotzig. »Das Einzige, das mir wichtig ist, ist die Sicherheit meiner Tochter. Aber ich erwarte von keinem Mann, dass er das begreift.«
Demnach lag es an seinem Geschlecht, dass er auf so viel Feindseligkeit traf? Die Frau irrte sich, wenn sie ihm vorwarf, er könne nicht nachvollziehen, dass man ein Kind schützen müsse – oder sonst jemanden, der schwächer als man selbst war und sich nicht allein zu verteidigen wusste. Doch die Worte der Frau trafen ihn härter als erwartet.
»Was ist das für eine kalte Küste, die so feindselige Frauen hervorbringt?«, fragte er und deutete auf den Waldrand, der den langen, schmalen Küstenstreifen säumte und sich düster vom Nachthimmel abhob. Sein Leib verlangte nach einer Bettstatt, sein Magen nach einer warmen Mahlzeit – und nach kräftigem, dunklem Ale. Die Wunden an seinen Armen und an der Brust mussten gesäubert werden, bevor der Sand und das verkrustete Salz eine Entzündung hervorriefen.
Wichtiger als all diese körperlichen Bedürfnisse war für Rand indes der Wunsch, das Teilstück des Drachenkelchs wiederzufinden, das er auf unerklärliche Weise verloren hatte. Argwöhnisch blickte er wieder auf die ängstlich am Boden kauernde Frau und die eigenartige Mutter.
»Wie heißt dieser Landstrich?« Rand war es leid, auf die Antworten warten zu müssen. Bedeutungsvoll blickte er den Dolch an, den er immer noch drohend in der Hand hielt. »Ich möchte wissen, aus welchem Dorf oder Lehen ihr beide stammt, Frau. Ist das so schwer zu beantworten?«
»Die nächstgelegene Siedlung ist Egremont. Sie liegt landeinwärts, etwa einen halben Tag zu Fuß in Richtung Norden.«
Diese Antwort kam nicht von der älteren Frau, sondern von der sonderbaren Schönheit, die Serena hieß. Offenbar hatte sie sich von ihrer übersteigerten Erregtheit erholt, denn nun wirkte sie ruhiger. Gleichwohl schimmerte ihr Antlitz nach wie vor aschfahl, als sie zu Rand aufschaute.
»Und ihr beide, wo wohnt ihr?«
»Hier«, erwiderte sie einfach, und ihre Stimme war frei von Arglist oder unterdrückter Wut.
Rand entdeckte den schmalen Pfad am Waldsaum; das einzige Anzeichen, dass es an diesem einsamen Küstenstreifen Menschen gab. »Du und deine Mutter, ihr lebt hier in diesen Wäldern?«
Sie nickte nur.
Serenas Mutter, die nun neben ihrer Tochter am Boden hockte, warf ihm einen Blick zu, dem
Weitere Kostenlose Bücher