Der Kinderdieb
»Können wir jetzt spielen gehen?«
»Versuch es mit ›Lord Ulfger, können wir jetzt spielen gehen?‹«
»Lord Ulfger, können wir jetzt spielen gehen?«
Ulfger trat vor den nächsten Wandteppich. Peter erkannte sofort, wer darauf abgebildet war: die Dame. Auf ihrem Porträt sah sie gütig und stark aus, und ihre Augen leuchteten klar.
»Modron ist ein Geschöpf der Launen und Lüste, der Lieder und Stimmungen«, sagte Ulfger mit sorgenvoller Miene. »Sie war nie dazu bestimmt, zu führen.«
Peter spähte wehmütig den Gang hinab. Er wollte wirklich gerne mit den anderen Kindern spielen, und er begriff nicht, warum sie hier herumstehen und sich diese langweiligen Bilder betrachten mussten.
»Sie bemüht sich«, fuhr Ulfger fort, »und manchmal macht es den Eindruck, als könnte sie ihren Aufgaben tatsächlich gerecht werden. Heute Abend, am runden Tisch, dachte ich, dass sie die anderen hinter sich vereinen – dass sie ihnen begreiflich machen würde, was auf dem Spiel steht. Aber nein, sie ist launenhaft wie der Wind und lässt sich von etwas so Unbedeutendem wie dem Gesang eines Kindes ablenken.« Ulfger starrte Peter bohrend aus seinen dunklen Augen an.
Der Junge trat voll Unbehagen von einem Fuß auf den anderen und schaute in beide Richtungen den leeren Gang entlang.
Ulfger schwieg einen Moment und fragte dann: »Verehrst du sie?«
Peter nickte.
»Wünschst du dir, von ihr geliebt zu werden?« Er beugte sich vor, und sein Tonfall wurde mit jedem Wort harscher und eindringlicher. »Verlangt es dich nach ihrer Aufmerksamkeit? Nach ihrer mütterlichen Sorge?«
Peter wich zurück.
»Natürlich wünschst du dir das. Welche Wahl hast du schon?Ganz sicher hat sie dich in ihren Zauberbann geschlagen. Doch hör auf meine Worte. Du bist nichts als ein Zeitvertreib, ein schlechter Ersatz für den armen Mabon, den sie verloren hat. Sie versucht nur, dieses ewig blutende Loch in ihrem Herzen zu stopfen.« Er atmete gedehnt aus. »Vor ihrem großen Verlust war sie stärker, bevor man ihr ihren Sohn fortgenommen hat. Jetzt trauert sie nur noch ihrem Mabon nach. Deshalb verbringt sie so viel Zeit bei Avallachs Schrein, nicht um Avalons willen.
Nein
, sie hofft, dass Avallach ihr sagen wird, wo ihr Sohn zu finden ist.« Die letzten Worte spie Ulfger beinahe aus.
»Also bringt sie ihren kleinen Ersatzsohn an den Hof und lässt ihn ein hübsches Liedchen für uns trällern.« Er bedachte Peter mit einem seltsamen Lächeln. »Die Narren strahlen, klatschen und vergießen ein paar sentimentale Tränen, bevor sie sich wieder dem Wein und dem Gelage zuwenden, fröhlich und ausgelassen sind, während sie mitsamt Avalon
untergehen!
« Er knirschte mit den Zähnen. »Wenn ich Herrscher bin, werde ich dieser Prasserei ein Ende bereiten. Man wird die Macht der Feen fürchten. Den Namen Ulfger wird man nur ängstlich flüstern. Wir werden die Menschlinge in ihre Schranken weisen, anstatt uns noch länger hinter dem Nebel der Dame zu verkriechen.«
»Ulfger, ich meine Lord Ulfger«, sagte Peter. »Können wir jetzt endlich spielen gehen?«
Ulfger machte ein empörtes Gesicht. »Spielen? Spielen? Lachend und kichernd mit anderen Jungen und Mädchen umherrennen? Denkst du denn an nichts anderes?«
Peter nickte von ganzem Herzen.
Ulfger seufzte. »Komm mit.«
»Wie wird man Mitglied in der Leibgarde der Dame?«, fragte Peter.
Ulfger blickte mit einem spöttischen Lächeln zu ihm herab.Jetzt, wo er direkt neben ihm ging, stellte Peter fest, wie groß der andere Junge war. Er war schon jetzt größer als die Elfen, und im Gegensatz zu ihnen war er grobknochig und hatte einen breiten Brustkorb. Er ähnelte eher den Menschenmännern, die Peter gesehen hatte.
»Zuerst musst du lernen, diejenigen zu respektieren, die über dir stehen. Du kannst anfangen, indem du mich korrekt anredest. Mein Titel lautet Lord. Zum Beispiel: ›Lord Ulfger, dürfte ich‹, oder: ›dürfte ich, Lord Ulfger‹. Begreifst du dieses einfache bisschen Etikette?«
Peter bedachte ihn mit einem fragenden Blick, nickte jedoch.
»Nein. Du
nickst
mir nicht zu. Nicke mir
niemals
zu. Das ist nur unter Gleichrangigen erlaubt. Verstanden?«
Peter zuckte mit den Schultern.
Ulfger blieb stehen. »Bist du zurückgeblieben? Mit den Achseln zu zucken ist nicht besser, als zu nicken. Noch mal von vorne.«
»Was soll ich von vorne machen?«
»Nein!«, grollte Ulfger. »Es heißt: ›Was soll ich von vorne machen, Lord Ulfger?‹«
Peter hörte
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