Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
Charles, dass ich unmöglich allein ins Theater gehen kann.«
»Marian.«
»Ja?«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst.«
»Aber Charles, welchen Tag haben wir denn heute? Samstag. Freitag und Samstag kann man sich abends nicht mehr allein in die Stadt wagen, jedenfalls nicht als Frau, ohne Begleitung so wie ich.«
Resnick warf einen Blick auf sein Glas und die Pilsflasche daneben, beide waren leer. »Du hättest doch ein Taxi nehmen können.«
»Und wie hätte ich nach Hause kommen sollen? Ich habe im Theater angerufen, die Vorstellung ist um kurz nach halb elf zu Ende, du weißt, dass man um diese Zeit nur noch an zwei Ständen Taxen bekommt. Ich hätte bis zum Platz hinuntergehen müssen oder zum Victoria Hotel. Aber überall in der Stadt, wo man geht und steht, treiben sich diese jugendlichen Banden herum …« Zwei rote Flecken zeigten sich hoch oben auf ihren Backenknochen und betonten die Blässe ihres Gesichts, die Schmalheit ihrer Wangen. »Man ist nicht mehr sicher, Charles. Es ist so, als hätten sie Stück für Stück alles an sich gerissen. Frech und laut sind sie, und wir schauen weg; oder bleiben zu Hause und verriegeln unsere Türen.«
Resnick hätte ihr gern widersprochen, gesagt, sie übertreibe, dass es ganz so schlimm nun auch nicht war. Aber er schwieg, drehte nur sein Glas hin und her und dachte an den hochrangigen Kollegen auf der Konferenz der PoliceFederation, der davor gewarnt hatte, dass die Polizei auf den Straßen die Kontrolle verliere; er wisse, dass es Städte gebe, und er spreche nicht nur von London, wo kugelsichere Westen, Helme und Schilde am Wochenende zur Standardausrüstung der Streifenpolizisten gehörten.
Marian berührte seine Hand. »Wir brauchen gar nicht so weit zurückzudenken, Charles, um uns an Banden von jungen Männern zu erinnern, die die Straßen unsicher machten. Man fürchtete sie damals mit Recht.«
»Marian, das waren doch nicht wir. Das waren unsere Eltern. Oder sogar Großeltern.«
»Und deshalb sollen wir es einfach vergessen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Was dann?«
»Es ist nicht dasselbe.«
Marians Augen waren dunkel wie marmorierter Stein, wie frisch aufgeworfene Erde. »Wegen dieser jungen Männer sind unsere Eltern geflohen. Zumindest die, die nicht im Getto oder bereits tot waren. Wenn wir das vergessen, laufen wir dann nicht Gefahr, dass es sich wiederholt?«
Raymond saß seit ungefähr einer Stunde im »Malt House« – zwei Halbe und ein Kurzer – und schaute sich die Frauen an, die in Gruppen hereinkamen und wieder hinausgingen, knallig und schrill. Etwas abseits legte ein DJ Songs auf, an die Raymond sich vage entsann, ohne je deren Sänger oder Texte gekannt zu haben. Nur ab und zu wurden deutlichere Erinnerungen wach, an Eddie Van Halen oder ZZ Top, eine dieser Bands, die mit einem Haufen Krach ungefiltert auf einen einprügelten.
Raymond wurde langsam kribbelig, während er versuchte, die Typen am Tresen zu ignorieren, die ihn von Zeit zu Zeit fixierten, um ihn zu einer Reaktion zu zwingen, einer Erwiderung ihres Blicks, einem Hochziehen der Augenbrauen.Er wusste, dass sie hier nichts anfangen würden; sie würden warten, bis er aufstand, und ihm dann auf die Straße folgen. Ein paar grölende Bemerkungen, wenn er in Richtung der Sozialbauten abbog, dann würden sie ihn einkreisen und rempelnd an ihm vorbeidrängen. Erst vor einer Woche hatte er beobachtet, wie genau dort, an dieser Straße, ein Mann von so einer Bande in das Schaufenster einer Boutique gestoßen worden war. Als sie von ihm abgelassen hatten, sah sein Gesicht aus wie eine der Rinderhälften, mit denen Raymond sich in der Arbeit abmühte und die seinen Overall mit Blut tränkten.
Aber so leicht würden sie mit Raymond nicht fertig werden. Diesmal nicht. Diesmal hatte er etwas, womit er sich wehren konnte.
Er ging zur anderen Seite des Tresens hinüber; noch eine Halbe, dann war es Zeit. Ein Mädchen schlenkerte lachend ihren Arm und traf ihn aus Versehen, als er vorüberkam. Sie lachte noch lauter und drehte den Kopf, dass das dauergewellte blonde Haar wippte. Ein taxierender Blick genügte ihr, schnell und gierig, und er war abgehakt. Während Raymond auf die Bedienung wartete, beobachtete er sie. Sie trug ein blaues Kleid mit Spaghettiträgern, die auf der blassen Haut ihres Rückens etwas spannten. Er sah, wie sie einen Moment die Augen schloss und das Lied mitsang, das der DJ aufgelegt hatte, irgendeinen Soul-Scheiß aus den Charts vom
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