Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
Vom Netzwerk:
und schloss Raymonds Finger warm darunter ein.
    Das ehemalige Industriegelände auf der einen Straßenseite gehörte der Bahn, das hatte sein Onkel ihm einmal erzählt, und wahrscheinlich gehörte es ihr auch heute noch: eine Gruppe düster wirkender Bauten, große und kleine, und dazwischen aller nur erdenklicher Müll, den die Leute dort deponiert hatten. Nach Einbruch der Dunkelheit rückten Lastwagen an und Kleintransporter mit Namen auf der Seite, die schon unzählige Male überpinselt worden waren; am Morgen kamen dann Leute mit Kinderwagen und Schubkarren, durchwühlten die ausrangierten Sachen und nahmen mit, was sie noch gebrauchen oder verkaufen konnten.
    Sara fröstelte, der Hauch ihres Atems verflog in der Luft, und Raymond nahm ihre Hand und drückte sie. Die Knochen ihrer Finger waren zart und zerbrechlich wie die eines Kindes.
    »Komm.« Er zog sie an einem Haufen Bauschutt vorbei zu einer leer stehenden Halle, deren Stahlträger zum Himmel hinaufragten.
    »Was sollen wir denn da drinnen?«
    »Keine Angst.«
    Raymond hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn nach oben. Das Klirren splitternden Glases, als die letzten Reste eines Fensters herausbrachen, klang dünn undfern wie der hastige Flügelschlag einiger erschrocken auffliegender Tauben.
    Links drüben sah Raymond die Glut einer Zigarette in der Dunkelheit. Er schob seine Hand unter Saras Jacke und spürte unter der glatten Seide ihrer Bluse die kleinen Knochen ihrer Wirbelsäule. In der Halle beugte er den Kopf zu ihr herunter, um sie aufs Haar zu küssen, aber sie hob ihr Gesicht und so trafen seine Lippen stattdessen ihren Mund, zuerst allerdings nicht richtig, nur den Mundwinkel, aber dann wurde mit ein wenig Manövrieren doch ein richtiger Kuss daraus, begleitet von einem feinen Geschmack nach Schokolade, der in den Härchen ihrer Oberlippe hing.
    »Ray. Wirst du so genannt? Ray?«
    Raymond lächelte und tastete nach ihrer Brust. »Ray-o.«
    »Ray-o?«
    »Manchmal.«
    »Ist das ein Spitzname?«
    »Ja.«
    Er zog seine Jacke aus, nahm ihr die ihre ab und breitete beide auf dem Boden aus, der nur noch aus Beton und Lehm bestand, weil die Dielen längst herausgerissen waren.
    »Was ist das?«
    »Was?«
    »Was mich da in den Rücken piekst.«
    Er half ihr, sich ein wenig aufzurichten, griff in die Innentasche seiner Jacke und nahm das Messer heraus.
    »Ray, was ist das?«
    »Nichts.«
    Nur schemenhaft konnte sie sein Gesicht erkennen; und den Metallgegenstand in seiner Hand.
    »Es ist doch kein Messer, oder? Raymond? Ist es ein Messer?«
    Er sah zu ihr hinunter und konnte, als seine Augen sichan das spärliche Licht gewöhnt hatten, ihre scharf geschnittenen, beinahe hübschen Gesichtszüge ausmachen.
    »Sag schon, ist es ein Messer?«
    »Kann schon sein.«
    »Wozu brauchst du denn ein Messer?«
    Er ließ es in seiner Hosentasche verschwinden und streckte die Arme nach ihr aus. »Ach, vergiss es.«
    Keine fünf Minuten später spritzte er, von ihrer Hand stimuliert, ab. Während sie danach schweigend dalagen, spürte er bei jedem ihrer Atemzüge die Bewegungen ihres Brustkorbs.
    »Ray-o.«
    Er wälzte sich auf die Seite und setzte sich auf. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche.
    »Was ist das?«
    »Was denn jetzt?«
    »Dieser Geruch.«
    Er merkte, wie er rot wurde, und sprang auf. »Ich rieche nichts«, sagte er verlegen.
    »Doch, es kommt von dahinten. Ganz bestimmt.«
    Sie starrte zu der Stelle, wo die rückwärtige Wand hinter Stapeln von faulenden Kartons, feuchten Säcken und alten Kisten in der Dunkelheit verschwand. Und wenngleich Raymond es nicht zugeben wollte, roch er es natürlich auch, und es erinnerte ihn an die bis zum Rand mit Gedärmen und Kutteln gefüllten Förderwagen an seinem Arbeitsplatz.
    »Wohin willst du?«, rief Raymond beunruhigt.
    »Nachsehen.«
    »Warum?«
    »Darum.«
    Mit einer Hand hielt er sich die Nase zu und folgte ihr, obwohl er am liebsten einfach umgekehrt und abgehauen wäre.
    »Scheiße, verdammt, Sara, wer weiß, was das ist.«
    »Deswegen brauchst du doch nicht gleich so zu fluchen.«
    »Hund, Katze, alles Mögliche.«
    Sara holte das Feuerzeug aus ihrer Handtasche und knipste es an. Der Gestank hatte ihr schon die Tränen in die Augen getrieben. In der hintersten Ecke lehnte eine Holztür an der Wand; dahinter klemmten zersplitterte Bretter und etliche Stapel Pappe.
    »Sara, machen wir, dass wir hier wegkommen.«
    Ihr Feuerzeug ging aus, und als sie es wieder anknipste, huschte eine

Weitere Kostenlose Bücher