Der Kinderpapst
Gesicht.
»Teofilo!«
Noch während sie seinen Namen rief, duckte er sich und schlüpfte
zwischen einer Horde prügelnder Männer hindurch in ihre Richtung.
»Bleib, wo du bist! Ich hole dich!«
Flink wie ein Wiesel wich er den Schlägen und Tritten aus und nutzte
jede Lücke, um in ihre Nähe zu kommen. Bald war er nur noch eine Körperlänge
entfernt, und sie konnte fast schon seine ausgestreckte Hand ergreifen, da
packte ihn ein schwarz gewandeter Riese wie einen Welpen im Nacken und warf ihn
beiseite. Teofilo stieà einen so lauten Schrei aus, dass für einen Moment alles
erstarrte, seine Augen glänzten, als wäre ein Dämon in ihn gefahren. Wie ein
tollwütiger Hund stürzte er sich auf den schwarzen Riesen und biss ihm ins
Gesicht.
»Los, Chiara! Lauf!«
Für einen Wimpernschlag war der Weg frei. Doch es war, als hätte sie
Blei in den Schuhen.
»Ich ⦠ich kann nicht â¦Â«
»Du musst!«
Bevor sie sichâs versah, war Teofilo bei ihr, nahm ihre Hand und
riss sie mit sich fort â zum Kirchentor, in Richtung Licht, ins Freie â¦
6
Warm schien die Oktobersonne von dem dunkelblauen Herbsthimmel
herab, und in der Ferne, unterhalb des Felsvorsprungs, der aus Schwindel
erregender Höhe senkrecht in die Tiefe fiel, glitzerten die Strahlen wie
goldene Brokatfäden auf der gekräuselten Oberfläche eines Sees, von dem es
hieÃ, er könne Wunder wirken.
»Was meinst du mit Ãberraschung?«, fragte Chiara.
»Nicht hier. Erst wenn wir da sind«, erwiderte Teofilo.
Er versuchte, mit so tiefer Stimme wie ein Mann zu sprechen â oder
wie Domenico, der Sohn des Crescentiergrafen, der Chiara zu ihrem zwölften
Geburtstag eine Kette aus bunten Holzperlen geschenkt hatte. Zwar hatte seine
Braut die Kette nie getragen, aber konnte man wissen, was so ein Mädchen
insgeheim tat? Vielleicht trug sie die Kette ja in der Nacht, wenn sie im Bett
lag, und dachte dabei an Domenico ⦠Unter Chiaras Tunika zeichneten sich schon
zwei zarte, alle Glückseligkeit versprechende Wölbungen ab, und er selber war
noch nicht mal im Stimmbruch, geschweige dass endlich sein Bart anfing zu
sprieÃen, obwohl er in einem Alter war, in dem seine älteren Brüder schon zu
Knappen ernannt worden waren! Was für eine Ungerechtigkeit!
Ob sie sein Geschenk, das ihm in der Tasche brannte wie ein Stück
Kohle, wohl tragen würde?
Der Anblick ihres offenen Haars, das ihr in Locken auf die Schultern
fiel, machte ihn ganz verrückt. Ungeduldig griff er nach ihrer Hand, und gemeinsam
überquerten sie die Lichtung, die den Felsvorsprung mit dem dahinter liegenden
Wald verband, und verschwanden in ihrem Geheimversteck, einer Dickichthöhle so
groà wie eine Kapelle inmitten einer verwachsenen Brombeerhecke, in der nichts
als die sonnendurchtränkte Stille des Altweibersommers sie umfing. Seit der
Kaiserkrönung vor sechs Jahren verbrachten sie jede freie Stunde zusammen, die
Teofilo sich aus seinem Pagendienst am Hofe seines Vaters davonstehlen konnte,
und mindestens einmal in der Woche trafen sie sich an diesem geheimen Ort, den
niemand auÃer ihnen kannte, um ganz allein zusammen zu sein. Im hintersten
Winkel ihrer Höhle, wo die süÃesten Brombeeren wuchsen, hatten sie sich ein
Lager aus alten Kissen und Decken eingerichtet. Hier verbrachten sie ganze
Nachmittage damit, Seite an Seite auf den Bäuchen liegend mit den Zähnen die
Früchte von den Zweigen zu pflücken, bis sie glaubten zu platzen, oder sie
schauten zwischen den struppigen Dornenzweigen hindurch auf den See hinaus, um
wortlos schweigend von den Wundern zu träumen, die vielleicht eines Tages für
sie aus den fernen glitzernden Fluten aufsteigen würden.
»Und jetzt die Ãberraschung«, sagte Teofilo. Er griff in seine
Tasche, nahm Chiaras Hand und steckte ihr einen Ring an den Finger, dessen in
Gold eingefasster Stein lauter rote Funken sprühte. »Der ist für dich.«
»Für mich? Wirklich?«
Chiara streckte die gespreizten Finger von sich und betrachtete
ungläubig den Ring. Dabei schienen ihre Augen mit dem Edelstein um die Wette zu
funkeln. Zumindest kam es Teofilo so vor. Doch plötzlich erlosch das Leuchten
in ihrem Gesicht, und mit ernster Miene blickte sie ihn an.
»Woher hast du den Ring?«, wollte sie wissen.
»Das ist doch egal.«
»Ist es gar nicht! Hast du ihn etwa
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