Der Kinderpapst
spürte, wie sie unter Annas Blicken rot wurde, und hätte am
liebsten geschwiegen. Aber das hatte keinen Zweck. Denn Anna war mit ihren
sechzehn Jahren nicht nur viel älter und erfahrener als sie und wusste in
solchen Sachen Bescheid, sie kannte sie auch so in- und auswendig, dass sie
sowieso alles erriet, was in ihr vorging. Anna wusste sogar, dass sie niemals
ihre blonden Locken mit einem Schleier oder Tuch bedecken würde, nicht mal als
erwachsene Frau!
»Vielleicht«, sagte Chiara leise, »ist mein Bräutigam ja auch da.«
»Ach Gottchen, du bist ja richtig verliebt!«, rief Anna. »Komm her,
mein Schatz, damit ich dein Haar bürsten kann!«
4
Es war der höchste Festtag im Kirchenjahr, der heilige Ostersonntag,
als König Konrad mit seinem Gefolge in den Petersdom einzog, um sich zum neuen
römischen Kaiser krönen zu lassen, zum Augustus und Imperator Romanum, dem
mächtigsten Herrscher der Welt. Schon seit dem frühen Morgen harrte Teofilo an
der Seite seiner Mutter in der düsteren Basilika aus, die ihm mit ihrer
drückenden Gewölbedecke und den schmalen Fensterschlitzen, durch die kaum
Tageslicht ins Innere drang, so unheimlich war wie das Verlies in der Burg
seines Vaters. Während die gleichförmigen Gesänge eines Chores von den kalten
und feuchten Wänden widerhallten, drängte das Volk sich bis in die hintersten
Nischen und Ecken des Gotteshauses. Teofilo stellte sich auf die Zehenspitzen
und verrenkte sich den Hals, um zwischen all den Rücken und Schultern und
Köpfen der Erwachsenen überhaupt etwas zu sehen. In dem spärlichen Licht
erkannte er einen groÃen, bärtigen Mann, in einem goldenen Gewand voller Perlen
und Juwelen. Das musste der König sein! Ernste, in Brokat gekleidete Männer
schritten an seiner Seite, einer trug ihm das blanke Schwert auf einem Samtkissen
voraus, andere streuten Geldmünzen links und rechts des Weges, den Könige,
Herzöge und Grafen säumten, Kardinäle, Bischöfe und Ãbte, Ritter und Milizen
und Knappen. Gemeinsam bildeten sie eine Gasse in Richtung eines kreisrunden,
dem Boden eingefügten Steins, wo die wichtigsten römischen Edelleute versammelt
waren, um den König und Papst zu empfangen, mit Alberico an der Spitze,
Teofilos Vater und Bruder des Papstes, ein gewaltiger, breitschultriger Mann
mit einem Gesicht wie aus Fels gehauen und rotblondem Bart: der erste Konsul
von Rom, neben dessen imposanter Erscheinung die Oberhäupter der anderen Familien,
die Sabiner und Crescentier und Oktavianer und Stephanier, wie Gefolgsleute
niederen Ranges wirkten.
Eine Fanfare ertönte, und die Gesänge verstummten. Mit der Krone
Karls des GroÃen in den Händen trat Papst Johannes XIX .,
unter dessen Tiara Teofilo das vertraute Gesicht seines Onkels Romano erkannte,
auf den König zu.
»Nimm das Zeichen des Ruhmes, das Diadem des Königtums, die Krone
des Reiches, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!«
Wie auf ein unsichtbares Kommando sanken all die mächtigen und
wichtigen Männer vor Teofilos Onkel zu Boden: die Könige und Herzöge und
Grafen, die Kardinäle, Bischöfe und Ãbte, die Ritter und Milizen und Knappen â
ja, sogar Konrad selbst, der neue Kaiser, beugte vor seinem Onkel das Knie, um dessen
Fuà zu küssen. Teofilo sah es und konnte es nicht glauben.
»Ist der Papst mächtiger als der Kaiser?«, flüsterte er voller Andacht.
Seine Mutter nickte. »Ja, der Papst ist der mächtigste Mensch auf
Erden. Weil er der Stellvertreter Gottes ist.«
Teofilo schauderte. Für einen Moment gab er sich der berauschenden
Vorstellung hin, selber einmal solche Macht zu besitzen. Was für ein
herrliches, wunderbares Gefühl musste es sein, so hoch erhaben über allen
anderen Menschen zu stehen! Doch diese Vorstellung währte nur einen
Wimpernschlag. Denn plötzlich durchströmte ihn ein anderes, ganz sanftes,
unendlich beglückendes Gefühl, ein Gefühl, wie wenn man morgens fröstelnd im
Bett die Augen aufschlägt und die Sonne scheint einem wärmend ins Gesicht. Ein
Mädchen, so alt wie er selbst, ein blond gelockter Engel mit einer Haut wie
Alabaster und zartrosa Lippen, gewandet in eine grüne, perlenbesetzte Tunika,
stand ihm genau gegenüber, zwischen zwei Säulen, und sah ihn mit ihren
himmelblauen Augen unverwandt an: seine Cousine Chiara, das Mädchen, das
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