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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Zwei der Bogenschützen hielten die Blicke und die Pfeilspitzen unbeirrt auf das Ziel gerichtet; der dritte Mann jedoch, der Sano am nächsten war, ließ den Blick hastig über die Menge schweifen und sah, daß Sano zu ihm und den anderen hinaufstarrte. Sano ahnte die Absicht des Mannes, als dieser den Bogen herumschwang; doch es war zu spät, als daß Sano noch hätte reagieren können. Der Pfeil sirrte von der Sehne und zischte, funkelnd im Laternenlicht, auf ihn zu. Sano blieb gerade noch die Zeit, scharf Atem zu holen. Zum Abducken aber war es zu spät. Sekundenbruchteile später wieherte Sanos Pferd schmerzgepeinigt und bäumte sich unter ihm auf. Sano sah, daß der Pfeil aus dem Hals des Tieres ragte, und in rhythmischen Stößen quoll Blut rund um den Pfeilschaft hervor. Sano schrie auf und versuchte, das grell wieherende, auskeilende Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Doch das Tier machte einen Satz nach vorn; dann fiel es zur Seite. Sano, der mit zu Boden stürzte, sah mit einem letzten Blick, wie die Schützen auf den Hausdächern die Pfeile abschossen. Dann verschwand der Shōgun aus Sanos Blickfeld, als wäre er von unten zu Boden gerissen worden.
    Plötzlich breitete sich Panik unter den Zuschauern aus; die Menschenmassen verwandelten sich in ein brodelndes, wildes Durcheinander. Die Leute schubsten, stießen und traten sich, als sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Ihre Schreie übertönten sogar das Dröhnen und Klingeln der Gongs und der Glocken. Sano stürzte auf Körper, die von den wilden Todeszuckungen des Pferdes bereits zu Boden geschleudert worden waren: Füße und Beine, Arme und Hände trafen seine Brust. Sano wühlte sich unter einem Mann hervor, der auf ihn gestürzt war – nur, um einen wuchtigen Tritt ans Kinn zu erhalten, der ihn erneut zu Boden warf. Er rappelte sich gerade noch rechtzeitig auf, um zu beobachten, wie sich zwei der Leibwächter des Shōgun auf ein Hausdach zogen und die Verfolgung der flüchtenden Bogenschützen aufnahmen. Andere bildeten mit ihren Körpern einen Schutzwall um ihren gestürzten Herrn, während der Rest die Menge zurückdrängte, die sie und den Shōgun umringte. Sano wurde von Furcht und dem schrecklichen Gefühl gepackt, versagt zu haben. War der Shōgun tot?
    »Macht die Straße frei!« riefen die Leibwächter. »Los, los, bewegt euch! Nun macht schon!«
    Der dōshin, den Sano bereits zuvor mit einigen Leibwächtern hatte sprechen sehen, erschien wieder. Drohend schüttelte er seine jitte, während seine beiden Helfer die Keulen schwangen. Die Menge wich in Richtung Nakanochō, der Hauptstraße, zurück. Schreie und Rufe gellten Sano in den Ohren: »Was ist los? Was ist geschehen? Hilfe!«
    Plötzlich wurde Sano klar, daß er die Leute hören konnte, weil die Gongs und Glocken verstummt waren. Er stemmte sich gegen die wogende Flut aus menschlichen Leibern und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg hindurch. Er mußte sich davon überzeugen, ob …
    Auf einer kleinen, freien Fläche, welche die zurückweichende Menge gebildet hatte, lag ein toter Mann. Ein Pfeil steckte in seiner Brust. Sano stieß einen tiefen, zittrigen Seufzer der Erleichterung aus, als er erkannte, daß es sich um einen der Leibwächter des Shōgun handelte. Tokugawa Tsunayoshi stand inmitten seiner anderen Begleiter und Beschützer. Er war sichtlich erschüttert, aber unverletzt. Er zeigte auf den Leichnam; dann wies er zu den Dächern empor. Er machte ein düsteres Gesicht und schlug mit den Fäusten auf seine Leute ein. Sein Frauenkostüm bildete einen seltsamen, befremdlichen Kontrast, als er nun mit undamenhaftem Zorn seine Leibwächter prügelte und mit flüsternder, aber unverkennbar zorniger Stimme auf sie einredete. Wahrscheinlich wollte er von ihnen wissen, wer die Attentäter waren und wie sie erfahren hatten, daß er sich in Yoshiwara aufhielt, und weshalb der Anschlag nicht rechtzeitig bemerkt worden war. Die Hände in hilfloser Verwirrung ausgebreitet, gaben die Leibwächter Antworten, die der Shōgun mit weiteren zornigen Faustschlägen quittierte.
    Plötzlich wurde Fürst Nius Plan für Sano in aller Deutlichkeit erkennbar. Ohne den dōshin zu beachten, der ihn mißtrauisch angestarrt hatte, eilte Sano zum Shōgun. Er drängte sich an jedem vorbei, der ihm in den Weg geriet.
    Die Pfeilschüsse waren lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Menge zu zerstreuen und die Aufmerksamkeit der Leibwächter auf sich zu ziehen – ein Vorspiel für den

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