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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Würde O-aki ihr den Arm brechen? Würde Yasue dem jungen Fürsten Niu davon erzählen? Wahrscheinlich würde der Fürst sie dann töten lassen.
    Vielleicht, dachte O-hisa, wäre es das Beste. Vielleicht solltest du einfach aufspringen und die Strafe hinnehmen. Schließlich hast du den Tod verdient.
    Doch letzte Nacht hatte sie wieder von Yukiko geträumt, hatte flehende Blicke aus dunklen Augen in einem leichenblassen Gesicht gesehen. Dünne Finger, die bereits von Fischen angenagt waren, griffen hilfesuchend nach ihr. Langes schwarzes Haar wirbelte in aufgewühltem Wasser. Falls Sano glaubte, man könne diesem geplagten, unglücklichen Geist den ewigen Frieden schenken, indem man den jungen Fürsten Niu der gerechten Strafe zuführte, dann war O-hisa bereit, es zu versuchen. Und sie war sicher, daß dies die einzige Möglichkeit war, ihre eigene Familie vor dem Zorn des Fürsten zu schützen. Jener Teil O-hisas, der sich nach dem Leben sehnte, hoffte darauf, daß Sano recht hatte und daß ihr eine Möglichkeit einfiel, ihren Häschern zu entkommen.
    »O-hisa!« Yasues barsche Stimme riß das Mädchen aus seinen Gedanken. »Du hast gerade den Ärmel zugenäht, du Närrin! Paß doch auf, was du tust, du dumme Gans!«
    »Ja, Yasue -san. Es tut mir sehr leid.« O-hisa senkte eingeschüchtert den Kopf und machte sich daran, die Fäden herauszuziehen. Als sie wieder zu nähen begann, zitterten ihre Hände so sehr, daß die Nadel abglitt und sie sich in den Finger stach. Der Schmerz trieb O-hisa Tränen in die Augen; ihre Verzweiflung wuchs, und die Tränen strömten bald so heftig, daß sie ihr über die Wangen liefen. Sie saugte das Blut von der Fingerspitze, trauerte um ihre verlorene Kindheit und die ungewisse Zukunft.
    Auf dem Flur waren die Stimmen zweier Dienstmädchen zu hören, die am Zimmer vorübergingen.
    »Hast du den Pavillon im nördlichen Teil des Gartens schon saubergemacht?«
    »Nein. Ich dachte, das wäre deine Aufgabe.«
    »O je! Dann laß es uns rasch gemeinsam tun, sonst wird Fürstin Niu schrecklich wütend auf uns.«
    Der nördliche Teil des Gartens war nicht weit vom hinteren Tor entfernt. »Vielleicht sollte ich mitgehen und den beiden Mädchen helfen«, schlug O-hisa zaghaft vor.
    Yasue starrte sie finster an. »Du bleibst hier.«
    Als O-hisa das hämische Grinsen O-akis sah, verließ sie aller Mut und alle Hoffnung. Dann aber kam ihr plötzlich eine ausgezeichnete Idee. Sie stand auf, verbeugte sich und brachte mühsam ein unschuldiges, verschämtes Lächeln zustande.
    »Was soll das?« fuhr Yasue sie an. »Wohin willst du?«
    »Ich muß mich erleichtern, bitte«, sagte O-hisa und bezog sich mit ihrer Bemerkung auf die Toilette, wobei sie die umständliche, höfliche Umschreibung benutzte, die bei der Dienerschaft üblich war.
    Yasue verzog das Gesicht. Sie war offensichtlich verärgert und wollte nicht gegen ihre Befehle verstoßen; aber eine solche Bitte konnte sie schlecht abschlagen. »Also gut. Aber daß du mir nicht länger bleibst als nötig! O-aki, du gehst mit ihr.«
    Gefolgt von ihrer furchteinflößenden Aufpasserin, ging O-hisa zu den Toiletten der Dienstmädchen, einem winzigen Gebäude, das ein Stück vom Haus entfernt stand und nur durch einen engen Durchgang und über eine Treppe erreicht werden konnte. Als O-hisa sich in dem fensterlosen Raum befand, schloß sie die Tür und sprach ein kurzes, stummes Gebet. Vor Abscheu drehte sich ihr der Magen um, als sie an das dachte, was nun vor ihr lag. Sie raffte ihre Kimonos hoch und band sie sich um die Taille zusammen, so daß sie ihr beim Klettern nicht hinderlich waren. Wenn sie doch bloß ihre Sandalen hätte! Aber besser, man entkam barfuß, als überhaupt nicht. O-hisa überwand ihren Ekel und kniete vor dem Toilettenspalt im Fußboden nieder; ein Becken gab es nicht.
    Trotz häufiger Reinigung und reichlicher Verwendung duftender Kräuter drang der Übelkeit erregende Geruch nach Fäkalien und Urin aus dem breiten Spalt. O-hisa spähte in die schummrige Kammer unter dem erhöhten Fußboden der Toilette und konnte das teilweise gefüllte Auffangbecken sehen. Sie kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder, als sie sich setzte. Dann ließ sie sich, die Beine voran, vorsichtig in den Spalt hinunter.
    Der Abstand zwischen dem Spalt und dem Boden der Kammer war kleiner als O-hisas Körpergröße. Die Arme angewinkelt und zu beiden Seiten neben dem Rand des Spalts aufgestützt, hielt O-hisa den Atem an, während sie mit den Zehen nach

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