Der Kirschbluetenmord
Fürst Nius Motiv für die Morde gewesen war. Schließlich war Raikō der Morde an Yukiko und Noriyoshi wegen hingerichtet worden, und Tsunehikos Tod wurde offiziell als »Ermordung durch Wegelagerer« deklariert. Sano blieb keine andere Möglichkeit, als seine Geschichte von Anfang an zu erzählen, seine Schlußfolgerungen darzulegen und dann darauf zu hoffen, daß die metsuke zu ähnlichen Schlüssen gelangt waren. Er holte tief Luft, straffte die Schultern und marschierte über die Brücke.
»Ich möchte eine Audienz bei den metsuke« , sagte er zu den Wachtposten, nachdem er sich ausgewiesen hatte.
Die Wachen musterten ihn gelangweilt. »Zeigt mir Euren Passierschein«, sagte einer von ihnen.
»Ich habe keinen. Aber die Angelegenheit ist sehr dringend.« Sano hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, durch die verschiedenen Sicherheitsketten zu gelangen, die die Bewohner des Palasts nicht nur vor Bedrohungen für Leib und Leben, sondern auch vor Besuchern schützten, die ihnen unnötig die Zeit raubten. »Ich habe Nachrichten, die für den Shōgun von größter Wichtigkeit sind«, fügte Sano hinzu. »Erlaubt mir bitte, diese Angelegenheit den metsuke vorzutragen.«
»Von größter Wichtigkeit, hm?« Der Sprecher stützte sich auf seine Lanze. »Wie wär’s, wenn Ihr mir sagen würdet, um was es sich handelt? Ich sorge dann schon dafür, daß die Informationen an die richtigen Leute weitergeleitet werden.«
Bei dem Gedanken, wie seine Geschichte verzerrt und verändert wurde, wenn sie die bürokratischen Kanäle des Palasts durchlief – und vielleicht nie bis zu den metsuke gelangte – schüttelte Sano den Kopf. »Ich muß persönlich mit ihnen reden.«
»Das geht nicht.« Der Wachtposten ließ die Fassade der Höflichkeit fallen; seine Stimme wurde scharf. Er war ein Fußsoldat der Tokugawas – einer von jener Sorte, die ihrer Arroganz und Grobheit wegen verschrien waren. »Ihr habt zwei Möglichkeiten. Entweder Ihr hinterlaßt eine Nachricht, und falls die metsuke Euch empfangen möchten, werden sie Euch zu sich bestellen. Oder Ihr verschwindet. Wir haben zu tun.« Er wandte sich ab, um eine Gruppe Samurai zu überprüfen, die soeben eintraf.
Sano hatte Kirschenesser noch eine Information entlocken können, bevor er den durchnäßten und empörten shunga -Händler hatte laufen lassen: die Identität des metsuke, an den Noriyoshi seine Informationen weitergegeben hatte. Doch Kirschenesser war nicht sicher, ob der Name dieses Mannes Jodo Ikkyu oder Toda Ikkyu lautete.
Sano ging das Risiko ein und sagte zu dem Posten: »Toda Ikkyu wird Euren Kopf verlangen, wenn Ihr mich nicht auf der Stelle zu ihm bringt.«
Der Posten fuhr herum. »Ihr arbeitet für Toda?« Seine finstere Miene verwandelte sich in ein wissendes Grinsen. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?« Er hämmerte mit dem stumpfen Ende der Lanze gegen das Tor und rief jemandem im Innern etwas zu. Ein anderer Posten kam hindurch. »Führe diesen Mann zu Toda Ikkyu«, sagte der Wächter.
Der andere Posten bedeutete Sano, ihm zu folgen. Sano wurde klar, daß die Männer ihn für einen von Todas Informanten hielten. Nun ja – in gewisser Hinsicht war er das ja auch. Und Sano hatte erlebt, auf welche Weise die Regierungsbürokratie arbeitete: indem man die Angst der Menschen vor ihren Vorgesetzten benutzte, um sie zu bestimmten Handlungen zu bewegen.
Hinter dem Tor bildeten weitere Mauern eine viereckige Einfriedung, welche als Falle für vordringende Feinde diente, denen es gelungen war, die äußeren Verteidigungsanlagen des Palasts zu überwinden. Mindestens zwanzig Posten standen hier auf Wache, ernst und entschlossen. Sie nahmen Sano die Schwerter fort und durchsuchten ihn nach verborgenen Waffen. Dann ließen sie ein weiteres Tor aufschwingen, das im rechten Winkel zum Haupttor stand.
Durch das zweite Tor gelangte man auf einen ausgedehnten Hof, der von langen Holzhütten umgrenzt war; rote Vorhänge verwehrten den Blick auf das Innere. Sano sah Reihen um Reihen aufgestellter Waffen: Schwerter, Bogen, Lanzen, Musketen. Vor den Holzhütten standen Hunderte bewaffneter Samurai. Andere ritten über den Hof; die Pferde waren herausgeputzt, als hätte man sie für die Schlacht gerüstet. Der scharfe Geruch der Tiere lag in der Luft; das Stampfen rastloser Füße und das Dröhnen von Stimmen hallten von den Mauern wider. Hinter einem zweiten Wassergraben, über den eine zweite Brücke führte, erblickte Sano eine weitere Mauer. Der Bergfried
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