Der Kirschbluetenmord
gebracht.
Achselzuckend stieß der Fischer sein Boot mit einer Stange vom Ufer ab und lenkte es nach Osten, in Richtung des Flusses Sumida.
Bis in Kniehöhe watete Sano ins kalte, übelriechende Wasser des Kanals und packte das Boot, bevor es davongleiten konnte. »Bitte«, flehte er Kirschenesser an. »Ihr müßt mir mehr über die Verschwörungspläne erzählen. Wann wollen diese Einundzwanzig zuschlagen? Wo? Und wie? Sie müssen aufgehalten werden, begreift Ihr denn nicht? Wartet! Bitte!«
Das Boot schaukelte heftig; dann kenterte es. Kirschenesser und der Fischer stürzten ins Wasser und tauchten fluchend und prustend aus den trüben Fluten auf. Sano packte den um sich schlagenden shunga- Händler am Kragen. Dann tauchte er Kirschenessers Kopf wieder und wieder unter Wasser.
»Sagt es mir!« befahl er.
Jedesmal, wenn er an die Oberfläche kam, keuchte und japste Kirschenesser, schüttelte aber den Kopf. Er wollte nichts sagen. Wieder drückte Sano ihn unter Wasser und hielt ihn so lange fest, wie er es wagen konnte, ohne Gefahr zu laufen, daß Kirschenesser ertrank. Er wartete, bis die Bewegungen des shunga- Händlers erlahmten; dann zog er ihn in die Höhe.
»Wann?« fragte er schroff. »Wo? Wie?«
Kirschenesser hustete und rang japsend nach Atem. Sein Kopf war hochrot, und in seinen hervorquellenden Insektenaugen spiegelte sich nacktes Entsetzen. Er spuckte Wasser aus seinem vom Muttermal verunstalteten Mund. Doch immer noch schüttelte er den Kopf.
»Tötet mich, wenn Ihr es tun müßt, Herr«, jammerte er, »aber es wird Euch nichts nützen. Ich weiß nämlich nicht, wann, wo oder wie Niu Masahito den Shōgun ermorden will!«
23.
O
-hisa wollte nicht in der Nähstube des Niu -yashiki sitzen. Sie wollte den kleinen Töchtern des Daimyō keine Stoffpuppen nähen – nicht unter der Aufsicht Yasues, der obersten Näherin. Als die verabredete Stunde für ihr Treffen mit Sano anbrach, hatte O-hisa den sehnlichen Wunsch, am Laden des Schwertschmiedes zu sein, wo Sano auf sie wartete, um sie zum Rat der Ältesten zu bringen. Doch O-hisa blieb keine andere Wahl, als in der Nähstube zu bleiben, zu arbeiten und ihren Wünschen und Hoffnungen nachzuhängen.
»Wenn du mit dem da fertig bist«, sagte Yasue und zeigte auf den winzigen Kimono, den O-hisa mit einem Saum versah, »machst du dich sofort an den nächsten. Es sind noch sehr viele Kimonos zu schneidern.« Sie zeigte auf die Seide, die in leuchtenden Farben prangte und auf dem Fußboden der Nähstube verstreut lag. Ohne den Blick von O-hisa zu nehmen, fuhr Yasue fort: »Das Puppenfest findet bereits in einem Monat statt, und bis dahin müssen wir noch zweihundert Puppen einkleiden. Wir dürfen kein Unglück auf das Haus unserer Herrin herabbeschwören, indem wir nicht rechtzeitig fertig werden!«
O-hisa seufzte. »Ja, Yasue -san .«
Einst hatte O-hisa diese Arbeit geliebt, die sie an zu Hause erinnerte und an die glücklichen Tage ihrer Kindheit. Sowohl ihre Mutter als auch die Großmutter waren Witwen gewesen und hatten sich durch Näharbeiten einen kärglichen Lebensunterhalt verdient. Doch niemals hatten sie versäumt, für O-hisa das Puppenfest zu veranstalten, die alljährliche Feier für kleine Mädchen. Spät am Abend, nachdem des Tages Arbeit getan war, hatten sie in ihrem Einzimmerhaus im ärmsten Teil Nihonbashis am Ofen gesessen und im Licht der Lampen die Puppen genäht.
Als O-hisa nun daran zurückdachte, konnte sie die beiden vor sich sehen: ihre Mutter, deren Gesicht von Müdigkeit gezeichnet war und die ihre kleine Tochter dennoch freundlich und geduldig lehrte, wie man den Stoff zuschnitt und nähte; und ihre blinde Großmutter, die ermunternd lächelte, während ihre geschickten Hände auf wundersame Weise Kleider schneiderten, die sie gar nicht sehen konnte.
Für die Mutter, die Großmutter und O-hisa selbst hatte ihr zehntes und letztes Puppenfest – kurz bevor sie das Haus verlassen hatte, um ihre erste Arbeitsstelle anzutreten – einen wehmütigen Beigeschmack gehabt.
»Nicht weinen, O-hisa«, hatte die Großmutter gesagt. »Du kommst uns ja jeden Neujahrstag besuchen. An diesem Tag dürfen alle Diener nach Hause.«
»Sei ein artiges und gehorsames Mädchen«, hatte ihre Mutter leise hinzugefügt und den Kopf gesenkt, damit niemand ihre Tränen sehen konnte.
Nun verspürte O-hisa einen schmerzhaften Stich des Heimwehs. Sie seufzte, als sie das Gestern mit dem Heute verglich. Der Stoff in ihren Händen war feinste Seide
Weitere Kostenlose Bücher