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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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dem Auffangbecken tastete. Als sie den Rand des Beckens berührte, schwang sie den Körper nach hinten; dann zog sie die Arme an den Leib und ließ sich durch den Spalt fallen, wobei sie den Vorwärtsschwung nutzen wollte, um hinter dem Becken zu landen. Doch sie hatte sich verschätzt. Als sie landete, stieß sie mit den Füßen auf den Beckenrand und rutschte hinein. Warmer, klebriger Schmutz spritzte über ihre Beine und durchnäßte ihre Strümpfe. Gleichzeitig zwang die Atemnot sie zum Luftholen. Der widerliche Gestank hüllte O-hisa ein, und sie übergab sich. Dann sprang sie hastig aus dem Becken. In eine Ecke der beengten, übelriechenden Kammer gekauert, schlug sie eine Hand vor den Mund und betete, daß O-aki keinen Laut gehört hatte und die Tür öffnete.
    Rasch verlor sie in der Dunkelheit die Orientierung. Wo war die Luke, durch welche die Diener das Auffangbecken aus der Kammer entfernten, um es zu leeren und zu reinigen?
    O-hisas tastende Hände fanden schließlich die kleine Falltür und stießen sie auf. Übelkeit und Panik waren stärker als die Furcht. O-hisa zwängte sich durch die Öffnung, ohne sich zuvor davon zu überzeugen, daß niemand sie beobachtete.
    Frei! Sie war frei! Für einen Moment blieb sie auf dem Boden liegen und atmete tief und voller Erleichterung die reine, frische Luft ein. Dann rappelte sie sich auf und ließ die bis zu den Knien hochgerafften Kimonos herunter, bevor sie losrannte. Die Angst schwächte ihre Muskeln, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch der Gedanke an ihre Mutter und die Großmutter verlieh ihr zusätzliche Kraft und Mut. Sie beschloß, erst nach Hause zu gehen, nachdem sie und Sano den Rat der Ältesten aufgesucht hatten. Nie mehr würde sie zu den Nius zurückkehren!
    Jeder der vielen Flügel der Villa barg mögliche Gefahren. O-hisa umging die betriebsamen Küchen und die Wohnquartiere der Frauen. Statt dessen eilte sie durch das Tor, das zum verlassenen Wohnbereich der Männer führte, in dem sich der Daimyō, seine älteren Söhne und ihre engsten Ratgeber aufhielten, wenn sie in Edo weilten. Dort glaubte O-hisa, vor den wachsamen Augen der Diener und des jungen Fürsten Niu in Sicherheit zu sein, dessen Zimmer in einem gesonderten Flügel lagen.
    O-hisa blieb stehen, um sich zu orientieren. In diesem Teil des yashiki war sie nie zuvor gewesen, und der unbekannte Komplex aus verschlossenen Gebäuden und verlassenen Gärten verwirrte sie. Welcher Weg führte zum hinteren Tor?
    O-hisa bog in jene Richtung ab, in der sie das Tor vermutete. Sie durfte keine Zeit verlieren. Jeden Augenblick würde O-aki die Tür des Toilettengebäudes öffnen, O-hisas Flucht entdecken und Yasue davon berichten. Und dann würde man einen Trupp losschicken, um das Gelände nach ihr abzusuchen.
    Als sie einen engen Gehweg zwischen zwei Gebäuden hinuntereilte, hörte O-hisa ein knarrendes Geräusch. War es eine Tür, die geöffnet wurde? Bevor sie es verhindern konnte, stieß sie einen gellenden Schrei aus. Sie wirbelte herum. Ihre Panik verebbte ein wenig, als sie die Quelle des Geräusches erkannte: Es war ein Zweig, der an einer Mauer schabte. Beinahe wünschte sich O-hisa, gefangen und auf diese Weise von der Angst und Ungewißheit befreit zu werden, doch der Gedanke an ihre Familie trieb sie voran. Nur noch wenige Stunden, sagte sie sich, und du bist zu Hause. Sie stellte sich die Freude ihrer Mutter und Großmutter vor, wenn sie einen Tag früher als erwartet zu ihrem Neujahrsbesuch eintraf. O-hisa würde das Gesicht an der Brust der Mutter bergen und den Mord vergessen, dessen Zeugin sie geworden war, und all den Schrecken, den sie seitdem erlebt hatte. Weiter als bis zu diesem Augenblick tiefster Erleichterung und Freude wollte sie gar nicht erst denken. Sie wollte noch nicht daran denken, wie entsetzt und unglücklich ihre Mutter und die Großmutter auf die Nachricht reagieren würden, daß O-hisa ihren Arbeitsplatz verlassen und damit die Gefahr heraufbeschworen hatte, daß die Nius sie alle bestraften.
    O-hisa rannte das letzte Stück des Gehwegs hinunter und tauchte in einem Garten auf, in dem große, kantige Felsblöcke auf einer Fläche lagen, die mit sorgfältig geharktem, weißem Kies bedeckt war, in dem die Füße des flüchtenden Mädchens Spuren hinterließen wie im Schnee.
    Beinahe hatte O-hisa es bis zum Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens geschafft, als sie hinter sich knirschende Schritte im Kies vernahm. Ohne stehenzubleiben, drehte

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