Der Kirschbluetenmord
Leben davonzukommen, praktisch zunichte gemacht. Aber das Leben des Shōgun konnte er vielleicht doch noch retten. Als er Fürst Nius geheimes Treffen belauschte, hatte Sano den Eindruck gewonnen, daß der Mordanschlag schon bald verübt werden sollte. Möglicherweise sollte das Attentat stattfinden, sobald er, Sano, verhaftet worden war. Ohne große Hoffnung wandte er sich erneut an den schweigenden, regungslosen Eii -chan, um vielleicht doch noch jene Information zu erhalten, die er so dringend brauchte. Denn außer Eii -chan gab es niemanden mehr, den er noch hätte fragen können.
»Wißt Ihr, wo der junge Fürst Niu ist oder wann er den Anschlag auf den Shōgun verüben will?«
Sano widersetzte sich dem instinktiven Wunsch, den riesenhaften Diener zu packen und zu schütteln. Statt dessen hielt er sich in respektvoller Entfernung. Eii -chan konnte durchaus noch gefährlich sein, auch ohne daß Fürstin Niu ihm Befehle erteilte.
»Wenn Ihr es wißt, sagt es mir. Falls Ihr es könnt. Bitte!«
Dem Diener war nicht anzumerken, ob er Sanos Worte gehört oder begriffen hatte. Statt dessen legte er sein Schwert neben den Körper seiner Herrin. Vorsichtig darauf bedacht, nicht in ihr Blut zu treten, ging er zu einem Schreibpult neben dem Fenster. Er zeigte auf ein Blatt Papier, das auf dem Pult lag. Die Schriftzeichen darauf waren noch so frisch, daß die Tusche im Licht der Lampe feucht glänzte.
Fürstin Nius Abschiedsbrief! Von der sinnlosen Hoffnung getrieben, die Nachricht könne ihm irgendwie helfen, griff Sano hastig danach. Tiefe Enttäuschung breitete sich in ihm aus, als er die Seite überflog.
An meinen geliebten und einzigen Sohn Masahito:
Mit dieser meiner letzten Botschaft möchte ich Dir mitteilen, daß ich Dich mehr als irgend etwas oder irgend jemanden auf der Welt liebe. Um Dich zu schützen, habe ich Yukiko, Noriyoshi und O-hisa ermorden lassen. Außerdem habe ich den Tod Sano Ichirōs befohlen, dessen Schreiber an seiner Statt sein Leben ließ. Betrachte diese schrecklichen Taten als Beweis meiner Hingabe; denn Du hast mir nie erlaubt, sie Dir mit Worten oder Gesten zu zeigen.
Trotz meiner Pflichten Deinem Vater, unserer Familie und unserem Herrn, dem Shōgun gegenüber, könnte ich es nicht über mich bringen, Dich zu verraten. Deshalb habe ich beschlossen, jigai zu begehen. Es ist der einzige Ausweg, der mir geblieben ist, um meine Ehre wiederherzustellen, nachdem ich bei Dir und den anderen versagt habe, denen ich meine Aufmerksamkeit und Treue schulde.
Vor meinem Tod möchte ich noch zwei Wünsche äußern. Zum einen bitte ich Dich, meiner Seele die Ehre zu erweisen, indem Du von der verräterischen Tat abläßt, die Dich vernichten würde. Ich weiß, daß Du mir diese Bitte im Leben abgeschlagen hättest; jetzt aber, im Tod, erfülle mir diesen letzten Wunsch, auf daß ich nicht sinnlos sterbe. Ich bitte Dich.
Mein zweiter Wunsch betrifft Sano Ichirō. Möge es ihm gelingen, Dich von Deinem Plan abzuhalten – sofern Du nicht von selbst davon läßt –, auf daß er unsere Familie von Schmach und Tod errettet, was mir nicht gelungen ist.
Und nun sage ich Dir Lebewohl, mein geliebter Sohn. Wenn der barmherzige Buddha es will, werden wir uns dereinst wiedersehen.
Deine Mutter
Müde lehnte Sano sich an die Wand, den Arm gesenkt und den Brief in der schlaffen Hand. Hier, endlich, war der Beweis für die Morde – und der Beweis für seine Unschuld –, in Gestalt von Fürstin Nius Geständnis. Doch Sano wußte, daß es ihm nur wenig nutzen mochte. Es war eher damit zu rechnen, daß die Polizei ihn tötete, als sich seine Darlegungen anzuhören! Außerdem würde dies alles nicht das Leben des Shōgun retten. Und nach dem zu urteilen, was Fürstin Niu ihm gesagt hatte, bezweifelte Sano, daß ihre Bitte ihren eigensinnigen Sohn beeinflussen konnte.
»Lesen. Brief. Mir.«
Beim rostigen Klang von Eii -chans Stimme hob Sano vor Erstaunen ruckartig den Kopf. Er hatte Eii -chan noch nie reden hören und war bislang davon ausgegangen, daß der Hüne stumm war.
»Lesen«, wiederholte Eii -chan, senkte den Kopf und faltete die Hände wie ein Bettler.
Sano durfte hier, im yashiki der Nius, keine Zeit mehr verschwenden. Er mußte zumindest den Versuch unternehmen, die Schriftrolle den Behörden auszuhändigen, so daß Fürst Niu verhaftet und der Anschlag auf den Shōgun vereitelt werden konnte. Und er mußte versuchen, sich selbst zu entlasten, bevor jemand ihn tötete. Doch er
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