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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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sollte. Trotzdem. Vielleicht hatte er noch Zeit genug, den Shōgun vor der Gefahr zu warnen. So dürftig Sanos Informationen auch sein mochten, sie waren immer noch besser als gar nichts.
    Aber genügten sie auch?
     
    Eii -chan, nun ganz allein, senkte den Kopf, als er neben Fürstin Nius Leichnam kniete. Die Anstrengung des Redens hatte ihn ermüdet und geschwächt. Wenngleich er Worte verstehen und sie in Gedanken zusammenfügen konnte, hatte irgendein Mangel der Natur dafür gesorgt, daß er alle Worte stets in seinem Innern verschlossen hielt. Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte Eii -chan kein Wort mehr gesagt. Die Gewohnheit zu schweigen – die sich herausgebildet hatte, als die anderen Jungen sich über seine langsame, stockende Sprechweise lustig gemacht hatten – hatte sich tief in seinem Innern verwurzelt. Nur weil er wissen wollte, was Fürstin Niu in ihrem Abschiedsbrief geschrieben hatte, es aber nicht lesen konnte, hatte er heute abend sein Schweigen gebrochen. Jetzt wünschte Eii -chan, er hätte es nicht getan.
    Er konnte es immer noch nicht fassen, daß Fürstin Niu keine Nachricht für ihn hinterlassen hatte. Kein Wort des Dankes für all die Jahre treuer Dienste; kein Wort der Besorgnis darüber, was nach ihrem Tod mit ihm geschehen würde. Nicht einmal ein Lebewohl! Eii -chan hatte das Gefühl, vor Enttäuschung sterben zu müssen. Jetzt erkannte er, daß er für die Frau, die ihm alles bedeutet hatte, ein Nichts gewesen war. All die Jahre hatte sie ihn bloß als Diener betrachtet – oder, schlimmer noch, nur als ein Werkzeug. Die letzten Augenblicke ihres Lebens hatte sie damit verbracht, an ihren kostbaren Masahito zu schreiben – den boshaften, lieblosen Sohn, der sie zerstört hatte. Und anschließend? Sie hatte nicht einmal den Versuch gemacht, jenem Mann ihren Dank zu übermitteln, der sie wirklich geliebt hatte. Eii -chan hörte, wie ein schreckliches Geräusch über seine Lippen kam – zur Hälfte ein Schluchzen, zur Hälfte ein Brüllen. Kein einziges Wort hatte sie an ihn gerichtet! Nach allem, was er für sie getan hatte!
    Doch selbst in diesen Augenblicken blieb Eii -chans Liebe zu ihr bestehen. Er konnte diese Frau nicht hassen. Sie war noch immer seine Herrin.
    Eii -chan seufzte. Für einen Moment wehrte er sich nicht mehr gegen seine Trauer und seine Qual, die ihn wie eine schwarze Woge überflutete. Dann aber schob er Kummer und Schmerz durch die bloße Kraft der Disziplin beiseite, die seine Samurai-Ausbildung ihn gelehrt hatte. Seine Hände bewegten sich entschlossen und gezielt, als er den muffig riechenden Medizinbeutel losband, den er ständig an einer Kordel um den Hals trug; dann schnürte er die Schärpe los und streifte seinen Kimono ab. Als er sein Kurzschwert zog, warf er einen letzten Blick auf den abgetrennten Kopf seiner Herrin. Er war nur mehr ein bedeutungsloser Klumpen Fleisch und Knochen. Die wahre Fürstin Niu lebte in jenem Reich der Unterwelt weiter, in dem er sich bald zu ihr gesellen würde.
    Eii -chan stellte sich die Freuden ihrer Wiedervereinigung vor, so daß er nicht einmal aufschrie, als er sich das Schwert tief in die Eingeweide stieß.

29.
    Y
    oshiwara erhob sich als immer hellere und größere Lichtglocke vor Sano aus der Dunkelheit, als er in wildem Galopp über die Fernstraße durch die nächtlichen Sümpfe jagte. Feuerwerkskörper stiegen über den Mauern des abgeschlossenen Geländes auf, explodierten und ließen hin und wieder rote, blaue, weiße und grüne Funken auf die Dächer herniederregnen. Schon bald hörte Sano über das Trommeln der Hufe seines Pferdes hinweg Rufe, Gelächter und das Krachen von Kanonenschlägen.
    Das Pferd wurde immer langsamer. Sano spürte, wie die Flanken des Tieres sich vor Anstrengung schwer hoben und senkten, doch er drängte das erschöpfte Pferd voran. Auch Sanos eigener Atem ging stoßweise durch die Mund- und Nasenschlitze seiner Maske, als wäre er die ganze Strecke gerannt. Der wilde Ritt aus dem Wohnbezirk der Daimyō bis hierher hatte fast zwei Stunden gedauert; inzwischen rückte die mitternächtliche Stunde näher. Hatten die Mitglieder der »Verschwörung der Einundzwanzig« ihren Angriff auf den Shōgun bereits begonnen? Oder war noch Zeit, die Attentäter aufzuhalten?
    Wenn die Fürstin und der junge Fürst Niu ihm doch genauere Einzelheiten mitgeteilt hätten! Und wenn er selbst doch den Mut aufgebracht hätte, um Hilfe zu bitten! Aber er war noch immer ein Flüchtiger vor dem Gesetz.

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