Der Kirschbluetenmord
unter seinem Umhang, wo er zudem noch immer die Sandale und das Stück Seil verbarg.
Nachdem Fürstin Niu und Eii -chan gegangen waren und Sano sich allein im Zimmer des jungen Fürsten befand, befestigte er seine Schwerter an der Hüfte. Dann schritt er mit der nunmehr nutzlosen Maske, die Eii -chan ihm ebenfalls zurückgegeben hatte, den Flur auf und ab. Geistesabwesend drehte und wendete er sie in den Händen. Die Zeit verging, doch Fürstin Niu kam nicht zurück. Was hielt sie so lange auf? Hatte sie ihre Meinung geändert und wollte ihn nun doch nicht begleiten? Was sollte er in diesem Fall tun? Wie hatte das Wissen, einen Sohn zu beschützen, der zur Selbstzerstörung neigte, die Fürstin beeinflußt? Das Wissen, daß sie für diesen Sohn Morde hatte begehen lassen? Die Fürstin bedauerte die Missetaten ihres Sohnes, gewiß; aber er war ihr Fleisch und Blut, und sie liebte ihn. War sie wirklich imstande, ihn zu verraten, selbst wenn die Alternative ihr eigener Untergang und der ihrer Familie war?
Aber sie hat einen so schicksalergebenen Eindruck gemacht, versuchte Sano sich zu überzeugen. Als hätte sie die Richtigkeit ihrer Entscheidung voll und ganz erkannt und …
Mitten im Schritt hielt Sano inne. Eine plötzliche, schreckliche Vorahnung durchfuhr ihn.
»Nein«, flüsterte er, als ihm klar wurde, welche Entscheidung die Fürstin in Wahrheit getroffen hatte.
Er jagte durch die Tür, rannte den Flur hinunter, eilte durch den dunklen Garten und stürmte in das Gebäude, in dem sich die Zimmer der Fürstin befanden. Als er sich ihrem Wohnraum näherte, hörte er ein lautes, qualvolles Stöhnen. Er war zu spät gekommen. Sano stieß einen entsetzten Schrei aus, als er im Türeingang stehenblieb und genau das sah, was er befürchtet hatte.
»Nein!«
Fürstin Niu kniete auf einer Matte und hielt einen Dolchgriff umklammert, der aus ihrer Kehle ragte. Blut schoß aus dem vertikalen Schnitt im weißen Fleisch ihres Halses und strömte auf ihren Kimono. Ihr Mund stand offen. Ein ersticktes Röcheln drang daraus hervor; dann ein Schwall Blut. Die Fürstin verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Eii -chan stand neben ihr, das lange Samuraischwert in beiden Händen, die Arme ausgestreckt. Schließlich hob er das Schwert und hielt es hoch über das Genick der Fürstin.
»Nein!« rief Sano noch einmal. Er stürmte ins Zimmer und fiel vor den beiden auf die Knie.
Eii -chans Schwert fuhr in einem blitzenden Bogen hernieder und trennte der Fürstin den Kopf vom Rumpf. Mit einem Übelkeit erregenden Geräusch fiel er zu Boden, rollte in Sanos Richtung und blieb so liegen, daß Sano ins Gesicht der Toten blicken konnte. Ein großer Schwall Blut schoß aus dem Hals des zusammengesunkenen Körpers und färbte Wände, Fußboden und Decke rot. Warme Tropfen sprenkelten Sanos Gesicht, als er hilflos auf den Diener starrte. Er hatte der Fürstin geholfen, jigai zu begehen, den rituellen Selbstmord der Frauen.
Eii -chan hatte als ihr Sekundant gehandelt und ihren Qualen ein Ende bereitet, indem er die Fürstin enthauptete, nachdem sie sich selbst erdolcht hatte. Bis zum Schluß hatte er die Befehle seiner Herrin mit absolutem, erschreckendem Gehorsam befolgt. Sano konnte diesen Mann nicht hassen, der nun die blutige Klinge seines Schwertes betrachtete, wobei ein Ausdruck der Trauer, des Schmerzes und des Unglaubens auf seinem Gesicht lag, der ihn zum erstenmal wie ein menschliches Wesen erscheinen ließ.
Sano erkannte, daß Eii -chan in vielerlei Hinsicht ein besserer Samurai war als er selbst. Was für eine gewaltige innere Kraft mußte man besitzen, um den Menschen zu töten, dem zu dienen man geschworen hatte!
Sano blickte auf das verstümmelte Etwas, das einst Fürstin Niu gewesen war. Ihr Rumpf war zur Seite gekippt; die Hände hielten noch immer den Dolchgriff umklammert. Mit einem Gefühl, das dem Mitleid sehr nahe kam, erkannte Sano, daß die Fürstin sich die Fußgelenke gefesselt hatte, damit man ihren Leichnam in halbwegs züchtiger Haltung auffand, wie schlimm ihre Todesqualen auch gewesen sein mochten.
Es gab Sano keine Genugtuung, daß er die Vernichtung einer Mörderin von vier unschuldigen Menschen miterlebt hatte. Statt dessen verspürte er einen überwältigenden Anflug von Trauer um diese Frau, die von der Treue und Liebe zu ihrem Sohn zerstört worden war. Sanos Wunsch nach Vergeltung schwand und ließ eine innere Leere und Erschütterung zurück. Nie hätte er damit gerechnet, den
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