Der Kirschbluetenmord
daß ihr Sohn dem Tode geweiht war – wie es vielleicht schon bald der Fall war? Sano verdrängte sein Mitleid, indem er an Tsunehiko und die schreckliche Nacht in Totsuka dachte.
»Dann müßt Ihr die Verschwörung den Behörden melden«, fuhr er unerbittlich fort. »In Eurem eigenen Interesse und zum Wohle Eures Ehemannes und Eurer Familie. Ihr wißt, daß Ihr einen Mordversuch am Shōgun nicht vertuschen könnt, wie Ihr es bei den Morden an Yukiko und Noriyoshi getan habt. Die Wahrheit wird ans Tageslicht kommen, für alle sichtbar. Und wenn das erst geschieht, habt Ihr keine Gelegenheit mehr, Euren Sohn vor den Folgen seiner Taten zu schützen.«
Plötzlich straffte sich Fürstin Nius Körper, und Sano erkannte, daß sie versucht hatte, eine Möglichkeit zu finden, genau dies zu erreichen. Sie stieß einen zitternden Seufzer aus, denn eine solche Möglichkeit gab es nicht.
»Dann laßt uns jetzt den Rat der Ältesten aufsuchen und ihm die Schriftrolle zeigen. Der Rat wird …« Sano wollte fortfahren: … Euren Sohn verhaften lassen –, dann aber formulierte er seine Worte anders: »Der Rat wird dafür sorgen, daß der junge Fürst Niu niemandem ein Leid zufügt. Gehen wir. Ihr wißt, daß Ihr keine andere Möglichkeit habt.«
Wieder brach die Fürstin in Tränen aus. Sano wartete. Und wartete. Würde sie zustimmen? Sein eigenes Schicksal hing von ihrer Entscheidung ab. Er brauchte die Begleitung der Fürstin und ihrer bewaffneten Wachtposten, um auf dem Weg zum Schloß von Edo vor der Polizei geschützt zu sein. War er erst einmal dort angelangt, konnte er die verzweifelte, hoffnungslose Fürstin dazu bringen, die Morde zu gestehen und ihn zu entlasten. Eii -chans Hand schloß sich wieder straffer um Sanos Fesseln, was seine Ungeduld und den körperlichen Schmerz steigerte.
Schließlich hob Fürstin Niu den Kopf, blinzelte die Tränen fort und straffte die Schultern. Doch trotz aller Bemühungen war sie nur mehr ein müder Abklatsch der stolzen und herrischen Gattin des Daimyō, die sie vor kurzem noch gewesen war.
»Ihr habt recht«, sagte sie, und ihre Stimme klang mit einemmal wieder kalt und entschlossen. »Ich habe keine andere Wahl. Eii -chan, binde unserem Gast die Fesseln los und gib ihm seine Waffen zurück. Anschließend kommst du sofort auf meine Gemächer. Bitte, entschuldigt mich, Sano -san, aber ich möchte mich ein wenig zurechtmachen, bevor wir gehen.«
»Selbstverständlich.« Sano stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als Eii -chan ihm die Fesseln um die Handgelenke durchtrennte. Er war nicht nur deshalb erleichtert, weil damit der Schmerz endete und er die Hände wieder frei hatte. Sehr bald würde er den Behörden eine Mörderin übergeben, womit er der Gerechtigkeit diente und zugleich seinen Schwur einlöste, die Opfer zu rächen. Bald war er wieder ein freier Mann. Bald würde man Fürst Niu und seine Mitverschwörer verhaften, und der Shōgun war in Sicherheit. Als Sano sich ausmalte, rehabilitiert zu werden, Amt und Würden eines yoriki wiederzuerlangen und zu erleben, wie sein Vater gesundete, mußte er eine Woge verfrühter Vorfreude zurückdrängen.
»Darf ich die Rolle an mich nehmen?« fragte er. Das Schriftstück hatte viel von seiner Wichtigkeit verloren, nun, da Fürstin Niu beschlossen hatte, vor dem Rat der Ältesten auszusagen. Sano hatte die ganze Zeit gewußt, wie gering seine Chancen andernfalls gewesen wären, die Behörden von seiner Unschuld zu überzeugen und dazu zu bringen, die Anschuldigungen gegen ihn zurückzunehmen. Vielleicht hätte man ihn auf der Stelle hingerichtet. Ganz zu schweigen davon, daß es Sano ohne Fürstin Nius Aussage niemals gelingen konnte, den Beweis für Fürst Nius Attentats- und Umsturzpläne zu erbringen, ob mit oder ohne Schriftrolle. Doch für diese Rolle hatte er sein Leben riskiert, und er wollte sie immer noch nicht aus den Augen lassen.
Fürstin Niu rollte das Schriftstück zusammen und band die Kordel wieder darum. Dann erhob sie sich und reichte Sano die Rolle mit einer Verbeugung. Ihr tränennasses Gesicht war angespannt, als sie sich bemühte, ihre gewohnt strenge Miene aufzusetzen.
Sano hielt ihr Benehmen für seltsam förmlich, besonders zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen, da keine Geste der Förmlichkeit oder Höflichkeit den Ernst ihrer Lage verbessern konnte. Vielleicht fand sie Trost in diesem höflichen Ritual. Ernst erwiderte Sano die Verbeugung der Fürstin und verstaute die Rolle
Weitere Kostenlose Bücher