Der Kirschbluetenmord
hatte schon die ganze Zeit den Verdacht gehegt, daß Eii -chan ein intelligenter Mann war; die geheime Verfolgung Sanos und Tsunehikos auf der Fernstraße hatte bewiesen, daß Eii -chan ein geschickter Spion war – eine Fähigkeit, die er vermutlich auch dazu verwendet hatte, die Dienerschaft der Nius zu bespitzeln.
Und nun hatte Sano erfahren, daß Eii -chan sprechen konnte. Falls er dem Diener den Gefallen erwies und ihm den Brief vorlas, erzählte Eii -chan vielleicht, was er über die Pläne Fürst Nius wußte – falls er etwas darüber wußte. Sano las den Brief laut vor.
Als er geendet hatte, stand Eii -chan für einen Augenblick schweigend da. Dann fragte er mit seiner kratzigen Stimme: »Ist alles?« Sein Gesicht spiegelte sein Erstaunen wider.
»Ja.« Sano dachte blitzschnell nach. »Hört zu, Eii -chan «, sagte er, trat näher an den Diener heran und streckte in einer flehentlichen Bitte zögernd die Hand nach ihm aus. »Fürstin Niu möchte, daß ich ihren Sohn aufhalte. Aber es könnte sein, daß ich getötet werde, noch bevor ich die richtigen Leute vor Fürst Niu warnen kann.« Er zwang sich, die Ungeduld aus seiner Stimme fernzuhalten. »Und selbst wenn diese Leute von der Verschwörung erfahren, könnte es sein, daß sie zu spät reagieren. Falls Ihr also wißt, wo Fürst Niu sich aufhält, dann sagt es mir bitte. Um seiner Mutter willen.«
Eii -chans einzige Antwort bestand darin, daß er den Kopf schüttelte, die Achseln zuckte und die Arme ausbreitete, um kundzutun, daß er die Antwort nicht kannte.
»Wißt Ihr denn, wann und wo er den Anschlag auf den Shōgun verüben will?«
Doch Eii -chan wischte Sano mit einem Schwung seines gewaltigen Armes beiseite. Er ging durchs Zimmer und kniete neben dem Leichnam Fürstin Nius nieder. Ihr Blut tränkte seine Kleidung, doch er schien es nicht zu bemerken, oder es kümmerte ihn nicht. Unempfänglich weiteren Bitten gegenüber, blickte Eii -chan voller Trauer auf den abgetrennten Kopf seiner Herrin – mit einem Ausdruck, als wäre die Welt für ihn erloschen.
Hastig und verzweifelt überdachte Sano noch einmal sämtliche Informationen, die er über den jungen Fürsten Niu besaß. Doch er fand nicht den kleinsten Hinweis darauf, wann oder wo die Verschwörung ihren Höhepunkt erreichen sollte.
Sano öffnete die Schriftrolle, las sie und suchte zwischen den Zeilen auf versteckte Botschaften. In dem Augenblick, als er das Schriftstück zusammenrollen und es wieder unter seinen Umhang schieben wollte, hielt er mitten in der Bewegung inne. Er starrte darauf, und sein Blick wurde unscharf, als eine vergessene Erinnerung an die Oberfläche stieg. Sano stockte der Atem.
Vor dem geistigen Auge sah er Fürst Niu bei dem geheimen Treffen, wie er auf der Plattform stand und heftig mit der Schriftrolle gestikulierte, während er ein Gedicht zitierte.
»Die Sonne senkt sich
auf die Wiese hernieder –
Glück und Segen!
Denn das neue Jahr
es naht heran.«
Plötzlich, im nachhinein, erkannte Sano die Bedeutung dieses Gedichts. »Sonnenuntergang … und das Herannahen des neuen Jahres … setsubun« ,sagte er laut und mit einer Stimme, die vor Staunen und aufkeimender Erkenntnis gedämpft war. »Glück« und »Wiese«: »Glückswiese« – der übliche Euphemismus für das Vergnügungsviertel Yoshiwara!
Die Verschwörer hatten gejubelt, weil ihr Anführer auf den Tag und den Ort für den Anschlag auf den Shōgun hingewiesen hatte!
Keuchend stieß Sano den angehaltenen Atem aus, als dieses zuvor unbedeutende Informationsbruchstück das Bild vervollständigte. Ein Hochgefühl ließ ihm schwindlig werden. Fürstin Niu hatte vorhin zu ihm gesagt, daß ihr Sohn – der durch seinen versteckten Hinweis auf den Anschlag vermutlich die Gefahr hatte herausfordern wollen – ihr aufgeregt erzählt habe, daß er an diesem Abend jemanden treffen wollte, der sich als eine der Prinzessinnen aus der Geschichte von Genji verkleidet habe, um mit diesem Unbekannten gemeinsam setsubun zu feiern.
Dem Shōgun, der in weiblicher Verkleidung das neue Jahr feiern wollte. In Yoshiwara. Heute abend.
Sano warf sich herum und stürmte aus dem Zimmer. Entsetzen, Angst und die dringende Notwendigkeit zur Eile ließen frische Energie in seinen müden, schmerzenden Körper strömen. Es war schon spät am Abend, und bis Yoshiwara lag noch ein weiter Weg vor ihm. Und er kannte weder den genauen Ort noch den genauen Zeitpunkt des Anschlags oder auf welche Weise er verübt werden
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