Der Klabautermann
hing, und blickte zweimal nach unten. Auf dem Promenadendeck folgte ihm Lotti und blieb stehen, wenn auch er stehen blieb. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm hin. Sie hat entsetzliche Angst, dachte er, und das machte ihn stark und mutig. Aber keine Sorge, Schatz, auf der Universität konnte mir in puncto Sport keiner das Wasser reichen. Das bleibt in einem stecken, auch wenn man jetzt 187 Pfund wiegt. Dieses neue Gewicht weiß Lotti noch nicht, sie denkt noch an die alten 183 Pfund. Aber vierzehn Tage auf einem Luxusschiff, fünf Mahlzeiten, Pils vom Faß, die besten Weine zollfrei, eine Küche wie in einem Grandhotel – da wird der Körper zum Schwamm und saugt alles auf.
Und da war der Schal. Am Davit von Boot 6. Am äußersten Ende, dort, wo die Taue und die Rollen waren. Das hieß, über den Davit kriechen. Peter Ahlers, das schaffst du spielend.
»Komm zurück, Peter!« rief Lotti vom Promenadendeck zum letztenmal. »Schatz, bleib doch zurück. Ich bitte dich … der dumme Schal … Denk an die Kinder … Hör doch auf mich …«
Auch das lernen Frauen nie: Einem Mann zu sagen, er soll auf sie hören, ist falsch. Dann macht er bewußt das Gegenteil. Nicht nur die weibliche, auch die männliche Psyche ist kompliziert.
Ganz vorsichtig begann Peter Ahlers, den Davit entlangzukriechen. Er erreiche den Schal, zerrte an ihm, aber er ließ sich nicht lösen. »Scheiße!« sagte Ahlers leise und klammerte sich mit den Beinen fest. »Was ist denn das?!«
Verblüfft erkannte er, daß der Schal nicht am Davit hing, sondern um die Rolle geknotet war. Das ist ja verrückt, dachte Ahlers. Das ist komplett verrückt. Ein Knoten!
Mühsam, sich mit der einen Hand an dem Davit festhaltend, mit der anderen den Knoten lösend, gelang es ihm endlich, den Schal zu bekommen. Triumphierend schwenkte er ihn durch die Luft und ließ ihn dann zu Lotti hinunterflattern. Sie fing ihn auf, legte ihn um ihre nackte Schulter und preßte dann ängstlich die Fäuste gegen den Mund, als Peter Ahlers sich vorsichtig nach rückwärts schob und endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Er war glücklich, wieder auf dem schmalen Gang zu stehen und atmete tief auf.
Man ist eben keine Zwanzig mehr, dachte er. Und die Fettröllchen um die Gürtellinie erzählen auch nicht von großer sportlicher Aktivität. Mehr Bewegung, Junge, und weniger Bierchen! Aber die Sache mit dem Schal haben wir doch noch geschafft.
Unten an der gesperrten Treppe erwartete ihn Lotti. Sie fiel ihm um den Hals, als er die Kette mit dem Schild BITTE NICHT BETRETEN wieder überstiegen hatte und drückte sich an ihn.
»Das tust du nie wieder, hörst du?« sagte sie mit gepreßter Stimme. »Nie wieder! Ich … ich habe nicht mehr atmen können vor Angst. Wenn das Schiff plötzlich geschwankt hätte …«
»Es hat aber nicht geschwankt.«
Er küßte sie und dachte dabei: Vierundzwanzig Jahre Ehe, und plötzlich ist alles wieder so, wie es damals war. Wir drücken uns an uns, als wolle jeder den anderen in sich hineinziehen. Gelobt sei der Schal; man sollte ihn als Reliquie aufheben.
»Nur eins begreif ich nicht«, sagte er und strich seiner Frau eine Haarsträhne aus der Stirn. »Eins ist ganz verrückt.«
»Was, mein Schatz?«
»Der Schal war um den Davit verknotet. Begreifst du das? Verknotet!!«
»Wieso verknotet?«
»Das ist die Frage. Der stärkste Wind kann keinen Knoten machen. Das zum einen. Zum anderen: Wir haben kaum Wind. Aber dein Schal war um den Davit geknotet!«
Er starrte noch einmal hinauf zu dem Rettungsboot und schüttelte den Kopf. Es war wirklich unbegreiflich. Lottis Hand tastete nach seiner Hand und umklammerte sie dann.
»Das … das ist ja wirklich merkwürdig, Peter«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte dabei. »Das … das ist unheimlich. Komm, laß uns gehen … schnell gehen. Ich habe Angst.«
Er folgte dem Ziehen ihrer Hand. Nein, ein Feigling war er nie gewesen, und auch jetzt wäre er lieber an Deck geblieben, um diesem Phänomen nachzugehen, aber Lotti zog ihn so heftig mit sich, daß er ihr folgte. Geradezu fluchtartig erreichte sie die Tür, riß sie auf und stürzte in das Treppenhaus.
Hinter der Glastür blieb Ahlers stehen und blickte noch einmal hinaus. Das Promenadendeck lag leer vor ihm, zum Teil versilbert von einem geradezu kitschigen Mondschein, zum anderen Teil im Schatten der über ihm hängenden Rettungsboote. Dahinter das ruhige Meer und der weite Sternenhimmel.
Ein Platz zum
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