Der Klang der Zeit
»Wie sollen sie denn sonst heißen, die Leute aus der Polackei?«
Wieder zuckt die Menge zusammen; dieser Blick, der so tut, als sei nichts gewesen. Wir sind ein einziger Verstoß gegen alles, was ihnen heilig ist. Aber hier, im Kreise der klassisch Gebildeten, lächeln sie tapfer in Dur. Sie drängen weiter zu den anderen Gewinnern, lassen uns noch einen letzten Augenblick lang allein, ein letztes Mal geborgen in unserer kleinen Nation. Vater und ältester Sohn tanzen zu den letzten Tönen des Schubert, die noch in dem leeren Konzertsaal widerhallen. Ihre Schultern berühren sich. »Glaub mir«, sagt der Ältere zum Jüngeren. »Ich habe im Leben schon ziemlich viele Polacken kennen gelernt. Beinahe hätte ich ein Mädchen aus der Polackei geheiratet.«
»Dann wäre ich ein Polacke geworden?«
»Ein Beinahe-Polacke. Ein kontrafaktischer Polacke.«
»Ein Polacke in einem Paralleluniversum?«
Sie plappern drauflos, kleine Witze über seinen Beruf. Ein Possenspiel für die eine, deren Namen heute keiner von uns nennen wird, die Frau, der wir jede Note des gewonnenen Wettbewerbs darbringen. Ich blicke hinüber zu Ruth, wie sie im Rampenlicht steht, beinahe kastanienbraun – die Einzige, die auf dieser Welt die Züge unserer Mutter bewahrt. Meine Mutter, die Frau, die mein Vater beinahe nicht geheiratet hätte, eine Frau, die mehr und länger Amerikanerin gewesen war als alle, die an diesem Abend im Konzertsaal saßen.
»Du warst auch gut, Joey«, beteuert meine kleine Schwester. »Ehrlich. Wirklich klasse.« Ich umarme sie zum Dank für ihre Lüge, und sie strahlt, ein Juwel. Wir schlendern zurück zu Pa und Jonah. Wieder vereint, die überlebenden vier Fünftel des stromschen Familienchors.
Aber Pa und Jonah brauchen niemanden. Pa hat sich den Erlkönig vorgenommen und Jonah übernimmt die Begleitung, geht in die Tiefen seiner Dreieinhalb–Oktaven–Stimme und versucht sich an etwas, das die linke Hand auf nicht vorhandenen Klaviertasten spielt. Er summt die Begleitung, die er gern von mir gehört hätte. Wie es gespielt werden sollte, in einem himmlischen Traum–Ensemble. Ruth und ich treten hinzu, wir können nicht anders, und übernehmen die Zwischenstimmen. Leute lächeln im Vorübergehen, aus Mitleid oder Scham, nur scheinbar zwei verschiedene Dinge. Doch Jonah ist der aufgehende Stern dieses Abends, für den Augenblick über jede Kritik erhaben.
Die Konzertbesucher werden behaupten, sie hätten ihn gehört. Sie werden ihren Kindern von dem Abgrund erzählen, der sich auftat, davon, dass der alte Konzertsaal auf einmal keinen Boden mehr hatte und sie in einem luftleeren Raum hingen, von dem sie gedacht hatten, die Musik sei dazu da, ihn zu füllen. Aber die Person in ihrer Erinnerung wird nicht mein Bruder sein. Sie werden erzählen, wie sie beim ersten Ton dieser magischen Stimme die Köpfe hoben. Doch die Stimme in ihrer Erinnerung wird nicht die seine sein.
Die wachsende Gemeinde seiner Zuhörer wird zu Jonahs Konzerten pilgern, sie werden die Eintrittskarten teuer handeln und seine Karriere verfolgen, auch noch in den letzten Jahren nach unserer Trennung. Kenner werden seine Platten aufspüren und die Stimme auf der Scheibe fälschlich für die seine halten. Die Stimme meines Bruders ließ sich nicht aufzeichnen. Er hatte etwas gegen alles Dauerhafte, wollte sich nie festlegen lassen, eine Abneigung, die aus jeder Note klingt, die er je auf-genommen hat. Er war ein umgekehrter Orpheus: Blickst du voraus, wird alles, was du liebst, vergehen.
Es ist 1961. Jonah Strom, Amerikas neue Stimme, ist zwanzig. So sehe ich ihn, vierzig Jahre später, acht Jahre älter als mein älterer Bruder je werden wird. Der Saal hat sich geleert, doch mein Bruder singt noch immer. Er singt bis zum letzten Takt, bis alle Bewegung zum Stillstand kommt, bis er in die Finsternis der Fermate eintaucht, ein Junge, der für eine Mutter singt, die ihn längst nicht mehr hören kann.
Diese Stimme war so rein, sie hätte Staatsoberhäupter zur Umkehr bewegen können. Doch wenn sie sang, wusste sie sehr genau, wer da neben ihr herritt. Und wenn es je eine Stimme gab, die eine Botschaft in die Vergangenheit schicken konnte, um zukünftiges Unglück zu verhindern, noch bevor es geschah, dann war es die Stimme meines Bruders.
WINTER, UM 1950
Aber im Grunde hat nie jemand diese Stimme wirklich gekannt, der nicht zur Familie gehörte und nicht mit ihr an jenen Winterabenden der Nachkriegszeit zusammensaß und sang,
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