Der Klang der Zeit
Delias Sopran huschte durch die hohen Register wie ein Blitz am westlichen Himmel.
Davids Bass machte mit deutscher Innigkeit wett, was ihm an Eleganz fehlte. Der Ehemann bot der Gefährtin Halt für jeden Höhenflug. Aber beide wussten, was ihre Ehe brauchte, und schamlos ließen sie von den Jungen die Zwischenstimmen übernehmen. Und immer krabbelte die kleine Ruth dazwischen, ließ sich auf den Wogen der Melodien schaukeln, reckte sich auf die Zehenspitzen, damit sie die Notenblätter sehen konnte, die die anderen studierten. Und so lernte auch das dritte Kind der Familie Noten lesen, ohne dass jemand es ihm beibrachte.
Wenn Delia sang, dann sang sie mit ihrem gesamten Körper. So hatte sie es, auch in Philadelphia noch, von Generationen von Müttern gelernt, die es nicht anders aus den Kirchen Carolinas kannten. Wenn sie die Stimme erhob, schwoll ihr die Brust wie der Blasebalg einer Orgel, in die der Heilige Geist gefahren war. Ein Tauber hätte ihr die Hände auf die Schultern legen können und hätte jeden Ton gespürt, seine Finger hätten vibriert wie eine Stimmgabel. David Strom hatte diese Freiheit seit 1940, seit sie geheiratet hatten, von seiner amerikanischen Frau gelernt. Der ungläubige deutsche Jude hüpfte nach inneren Rhythmen, sang seine Gebete so frei, wie seine Urgroßväter, die Kantoren, es getan hatten.
Der Gesang schlug die Kinder in den Bann, sie waren süchtig nach diesen musikalischen Abenden wie die Nachbarn nach ihren Radios. Singen war ihr Baseball, ihr Flohhüpfen, ihr Mensch-ärgere-dich-nicht. Und wenn ihre Eltern dann auch noch tanzten – getrieben von verborgenen Mächten wie die Gestalten in einer Ballade –, dann war das das erste große Geheimnis ihrer Kindheit. Die Strom-Kinder machten mit, drehten sich im Takt von Mozarts »Ave verum corpus« genauso wie zu »Zip-a-Dee-Doo-Dah«.
Die Eltern müssen gehört haben, welche Veränderungen damals mit der Musik vorgingen. Sie müssen das manische Pulsieren gespürt haben – als hätte die halbe Welt plötzlich ihren Rhythmus gefunden, die Erkennungsmelodie zum Leben. Swing hatte schon vor langem die Carnegie Hall erobert, der Ungestüm war längst salonfähig. Downtown in den knisternden Bebop-Clubs loteten Parker und Gillespie Abend für Abend die Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums aus. Ein weißer Arbeiterjunge aus einem schwarzen Viertel im moskitoverseuchten Mississippi sollte binnen kurzem den geheimen Puls der schwarzen Musik für alle Welt zum Swingen bringen und für alle Zeiten die blutleeren Foxtrott tanzenden Spießer hinwegfegen. Niemand, der damals dabei war, kann diese Veränderungen nicht bemerkt haben, nicht einmal zwei Leute, die so fernab von allem lebten wie der Physiker, der Flücht-ling aus Europa, und seine Frau, die Sängerin, die Arzttochter aus Philadelphia. Nicht dass sie nicht auch die Gegenwart geplündert hätten. Er hatte seine rhythmische Ella, sie ihren volltönenden Ellington. Niemals verpassten sie am Samstag die Übertragung aus der Metropoli-tan Opera. Aber am Sonntagmorgen wurde im Äther nach Jazz gefischt, während David wagenradgroße Omelettes mit Champignon und To-mate buk. In der stromschen Singschule standen die jungen Wilden gleichberechtigt neben der tausendjährigen Parade von Harmonie und Invention. Fingerschnippen sorgte bei Palestrina erst für den richtigen Schwung. Und Palestrina war ja schließlich auch einmal ein Revolu-tionär gewesen, einer, der die Welt über den Haufen warf.
Jedes Mal, wenn die Stroms ihre Lungen füllten, führten sie dies musikalische Gespräch fort, über die Zeiten hinweg. In der Musik hatten alle ihre Laute Sinn. Wenn sie sangen, waren sie niemandes Ausgestoßene mehr. Jeden Abend, an dem sie die Stimmen erschallen ließen – der Klang, der David Strom und Delia Daley in diesem Leben zusammengebracht hatte –, betraten sie eine heilere, hellere Welt.
Kein Monat verging, ohne dass Delia und David sich ihrem liebsten öffentlichen Flirt hingaben, einem verrückten Spiel mit musikalischen Zitaten. Die Kandidatin setzte sich auf den Klavierhocker, und rechts und links drückte sich ein Kind an sie. Sie saß da, verriet nicht das Geringste, das wellige schwarze Haar war die perfekte Tarnkappe. Mit langen rostbraunen Fingern drückte sie die Tasten und lockte eine einfache Melodie hervor – etwa das langsame, von den Holzbläsern gespielte Spiritual der Symphonie »Aus der Neuen Welt«. Der Herausforderer hatte dann zwei Wiederholungen lang Zeit
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