Der Klang der Zeit
für alle Zeiten verstoßen, nur weil er gesungen hatte.
DAS GESICHT MEINES BRUDERS
Das Gesicht meines Bruders war ein Schwarm Fische. Sein Lächeln ein Gewimmel von hundert verschiedenen Dingen. Ich habe ein Foto aus meiner Kindheit – eins der wenigen, die der Einäscherung entgangen sind. Darauf sitzen wir beide auf dem alten geblümten Sofa in unserem Wohnzimmer und packen Weihnachtsgeschenke aus. Seine Augen sind überall zugleich, wollen alles erfassen: Sein eigenes Geschenk, ein dreifach ausziehbares Teleskop; mein Geschenk, ein Metronom; Ruthie, die neugierig sein Knie umklammert; unseren fotografierenden Vater, ganz vertieft in den Versuch, die Zeit festzuhalten; Mama, gerade jenseits des Bildrands; den zukünftigen Betrachter, der hundert Jahre später einen Blick auf diese Weihnachtsidylle wirft, wenn wir alle längst tot sind.
Mein Bruder hat Angst, er könne etwas verpassen. Angst, dass der Weihnachtsmann die Geschenke vertauscht hat. Angst, mein Geschenk könne schöner sein als das seine. Mit der einen Hand hält er Ruth, damit sie nicht fällt und sich den Kopf an der Tischkante stößt. Mit der anderen greift er hastig nach oben und streicht sich die Stirnlocke glatt – die Haare, die unsere Mutter ihm so gerne gebürstet hat –, damit sie auf dem Foto nicht bis in alle Ewigkeit hoch steht wie ein selbst gebastelter Angelköder. Er tut alles, dass es ein gutes Bild wird, das gibt er unserem Vater durch sein Lächeln zu verstehen. Sein Blick huscht voller Mitleid zu unserer Mutter, die für immer ausgeblendet bleibt.
Das Foto ist eine der ersten Polaroid-Aufnahmen. Unser Vater liebte geniale Erfindungen, und unsere Mutter liebte alles, was Erinnerungen festhielt. Das Schwarzweißbild ist ausgebleicht – so sehen die späten vierziger Jahre jetzt überall aus. Ich kann dem Hautton meines Bruders auf der Fotografie nicht trauen, kann nicht ermessen, wie er damals auf andere gewirkt hat. Meine Mutter war die hellste unter ihren Geschwistern, und mein Vater ein blasser europäischer Jude. Jonah lag genau dazwischen. Die Haare schon eher wellig als gelockt, und ein winziges bisschen dunkler als rot. Die Augen braun; zumindest das hat sich nie verändert. Die Nase ist schmal, die Wangen hoch und schlank. Woran mein Bruder am ehesten erinnert, ist ein bleicher, asketischer Araber.
Sein Gesicht, das ist die Tonart E, die Tonart für schön; es ist das Gesicht, das ich auf der ganzen Welt am besten kenne. Es sieht aus wie Vaters wissenschaftliche Zeichnungen, ein offenes Oval mit vertrauensvoll blickenden halben Mandeln als Augen: Ein Gesicht, das für mich immer der Inbegriff eines Gesichts bleiben wird, mit diesem Ausdruck von ansteckender Freude, ein bisschen überrascht, die Haut straff über den runden Knochen gespannt. Ich habe dieses Gesicht geliebt. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich so aussehen könnte, wäre ich frei.
Schon damals hatte er das aufmerksame Misstrauen, die unschuldige Wachsamkeit. Seine Züge werden schärfer, von Monat zu Monat. Die Lippen werden schmaler, die Augenbrauen ziehen sich zusammen. Die Nase wirkt strenger, die Wangen werden hohl. Doch selbst viel später noch hatte er manchmal diesen offenen Blick, die Mundwinkel hochgezogen, bereit zum Scherzen, sogar mit seinen Mördern. Ich habe ein ausziehbares Teleskop zu Weihnachten bekommen. Und du?
Eines Abends nach dem Beten, fragte er unsere Mutter: »Woher kommen wir eigentlich?« Er kann damals nicht älter als zehn gewesen sein; er war beunruhigt, weil Ruth so anders aussah als wir beide. Sogar mich betrachtete er mit Besorgnis. Vielleicht konnte man den Schwestern in der Klinik ebenso wenig trauen wie dem Weihnachtsmann. Er war in einem Alter, in dem er den Farbunterschied zwischen Mama und Pa nicht mehr für Zufall halten konnte. Er sammelte Beweise, und die Last war erdrückend. Ich lag in meinem Bett, direkt neben dem seinen, und wollte ganz schnell noch ein paar Seiten in meinem Cosmic-Carson-Comic lesen, bevor das Licht ausgeschaltet wurde. Doch ich hielt inne, um Mamas Antwort auf die Frage zu hören, die mir selbst nie in den Sinn gekommen war.
»Wo ihr hergekommen seid? Ihr Kinder?« Wenn eine Frage sie unerwartet traf, wiederholte Mama sie erst einmal. Damit gewann sie zehn Sekunden. Wann immer etwas Ernst wurde, wurde ihre Stimme leise, piano, und nahm den butterweichen Mezzoton an. Sie rutschte ein wenig auf der Matratzenkante hin und her, wo sie saß und ihn streichelte. »Ich bin
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