Der Klang des Verderbens
vermisse dich einfach.«
»Morgen Nachmittag bin ich wieder zu Hause.«
Wahrscheinlich. Vielleicht.
Eventuell kam er auch erst in einer Woche nach Hause. Oder niemals.
Offen gestanden wusste er es noch nicht genau. Momentan hangelte er sich von Stunde zu Stunde, denn in seinen letzten Nachrichten an die Polizisten hatte er sehr viel verraten. Vielleicht genug, dass sie ihn bald identifizierten.
»Ist heute irgendjemand vorbeigekommen?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
Sie runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht. Warum? Wartest du auf ein Paket oder so?«
»Äh, ja, so was in der Art. Sag mir Bescheid, wenn du jemand Unbekanntes siehst, ja?«
Sie rang sich ein reizendes Lächeln ab. »Das klingt ja sehr geheimnisvoll.«
»So bin ich nun mal, dein ganz persönlicher James Bond.«
Das Lächeln wurde breiter. »Weißt du was, Liebling, ich musste daran denken, wie wir Thanksgiving in Chicago verbracht haben.«
Oh ja, daran hatte er auch ein-, zweimal gedacht. Oder tausendmal.
»Wäre es nicht nett, wenn wir das zu Weihnachten wiederholen?«
»Vielleicht, Schatz«, erwiderte er und schluckte mühsam, damit sie nicht merkte, wie schwer ihm dieses Gespräch allmählich fiel. Denn er glaubte nicht, dass er Weihnachten noch erleben würde.
Himmel, konnte er ihr das antun?
Nein. Das war die falsche Frage. Die eigentliche Frage lautete, konnte er es ihnen beiden antun, alles so zu lassen?
»Können wir nicht bitte irgendwohin reisen? Uns auf eine Warteliste für irgendeinen Flug setzen lassen und über die gesamten Feiertage einfach nicht zu Hause sein?«
Er hörte das Flehen in ihrer Stimme, sah die Hoffnung, die sie nicht verbergen konnte. Seine Frau
brauchte
ihn.
Er konnte ihr nicht geben, was sie brauchte. Noch nicht. Vielleicht nie.
Eine Schuld musste beglichen werden, und die beste Gelegenheit dazu bot sich nächste Woche. Langsam vermutete er, dass die Kopfschmerzen und die Schwindelanfälle, die ihn in letzter Zeit plagten, nur mit seinem Projekt zu tun hatten. Sie waren ein Zeichen, dass er das Richtige tat und es ihm viel besser gehen würde, wenn alles vorbei war. Nein, er durfte nicht aufgeben. Er konnte nicht einfach mit ihr irgendwohin fliegen, so gern er das auch getan hätte.
»Ich kann mir nicht freinehmen, das weißt du doch. Gerade um diese Zeit ist so viel los. Der Jahresendstress.«
»Ich weiß«, murmelte sie, »ich weiß.«
Sie unterhielten sich noch ein bisschen, und gegen Ende des Gesprächs hörte er sogar ein- oder zweimal ihr seltenes Kichern. Als sie schließlich auflegten, klang sie, als wären die Tränen getrocknet. Sie sollte die Nacht überstehen können. Wenn er es morgen nach Hause schaffte, oder irgendwann zwischen seinen Flügen, würde er sie auf jeden Fall schön zum Essen ausführen und versuchen, sie zum Lächeln zu bringen.
Wenn nur
ihn
irgendetwas zum Lächeln bringen könnte.
Dann dachte er an sein Projekt und daran, wie kurz er davorstand, es zu verwirklichen. Zwar kein Lächeln, aber etwas Ähnliches bog seine Mundwinkel nach oben.
Vielleicht eine Grimasse. Oder ein höhnisches Grinsen.
Was auch immer. Er würde lächeln, wenn alles vorbei war. Selbst wenn ihm nur ein paar Minuten blieben, bis sie ihn erwischten und abknallten.
Am Samstagvormittag rief Ronnie auf dem Weg zur Wache bei Daniels an. Sie hatte ihm gestern von Kalifornien aus per SMS geschrieben, dass sie nach Chicago aufbrachen, aber abends nicht mehr bei ihm angerufen. Es hatte sich einfach zu merkwürdig angefühlt mit Sykes in ihrem Zimmer, wo er in gegenseitigem Einvernehmen geblieben war. Aber jetzt, da sie den ganzen Tag nicht dazu kommen würde, blieb ihr keine andere Wahl. Immerhin fühlte es sich im Auto auf dem Weg zur hiesigen Polizeibehörde nicht ganz so seltsam an wie im Hotelzimmer.
»Hey, Ron, noch nicht von der Kaimauer geweht worden? Du bist doch jetzt in Chicago, oder?«, fragte er, sobald sein Gesicht das Display ihres Bildtelefons füllte.
»Fürs Erste«, erwiderte sie – denn wer wusste schon, wohin dieser seltsame Fall sie heute noch führte? »Und, was gibt’s bei dir?«
»Rührei mit Speck. Wollte mal probieren, ob meine neue Hand auch als Kochlöffel taugt.«
Sie musste lachen. »Ich meinte, wie steht’s mit dem Fall? Hast du Tate gestern erreicht?«
»Ja. Auf meine Anrufe hat er nicht reagiert, deswegen bin ich spontan nach Bethesda gegondelt.«
Abgelenkt fragte sie: »Klappt das mit dem Fahren?« Zwar hatten ihm die Ärzte gesagt, dass er sich
Weitere Kostenlose Bücher