Der Klavierstimmer
ich früher gesprochen habe, meine hämmernde Notwehr aus glühendem Zorn. Das merkte ich freilich erst Jahre danach, als wir längst in Berlin wohnten.
Es war die Zeit, als Maman nach einer Phase der Nüchternheit wieder zum Morphium griff. Damals - du wirst dich erinnern - richtete die Droge noch viel mehr Verwüstung an als früher. Maman fing Dinge an und vergaß schon kurze Zeit danach, was sie gewollt hatte. Lauter angefangene Stricksachen, Mahlzeiten, Zigaretten. Einmal habe ich beobachtet, wie sie am Telefon eine Nummer zu wählen begann, wie die Bewegungen dann zögerlicher wurden und noch vor der letzten Ziffer schließlich versiegten. Den Hörer in der Hand, stand sie da, stützte sich auf den Stock und sah ins Leere. So war es auch mit den Sätzen und Gedanken. Immer seltener fanden ihre Worte einen Abschluß und blieben in der Luft hängen. An schlechten Tagen kam sie über zwei, drei Worte nicht hinaus. Maman nannte das Stichwort, zu dem sie sprechen wollte (der Coiffeur--, die Philharmonie--, die Sommerfelds--), es tauchte in ihrem Bewußtsein auf, und erst dann (hatte man den Eindruck) traf sie die Entscheidung, was mit ihm geschehen sollte. Immer öfter fragten wir uns ängstlich, ob überhaupt eine Entscheidung fallen würde. Denn manchmal schien Maman ganz erstaunt über das angesprochene Thema, sie hatte nichts dazu zu sagen, und das Stichwort verglühte. Besonders schlimm war es im Gehen: Sie nannte das Thema, blieb stehen und ging erst weiter, wenn sie den Anschluß gefunden hatte. Später, als sie für den angefangenen Gedanken immer seltener eine Fortsetzung fand, ging sie irgendwann trotzdem weiter, in sich zusammengesunken, gebeugt von der Enttäuschung und der Scham über ihr Vergessen.
Zu einem Anfang die Fortsetzung suchen: Das war penser pensées gewesen. Aus dem Spiel war bitterer Ernst geworden.
Eines Tages dann gab es die Einladung bei André Duval, dem Pianisten, der sich für Vaters Betreuung während des Aufenthaltes in Berlin bedanken wollte. Du mußt eine Vorahnung gehabt haben, denn du erfandest eine abenteuerliche Ausrede. Schon am frühen Nachmittag begann sich Maman umzuziehen. Sie muß ihre ganze Abendgarderobe durchprobiert haben. Immer wieder erschien sie mit noch einem Kleid und trat vor den großen Spiegel im Entrée, als traue sie den vielen kleineren Spiegeln im Boudoir nicht. Sie wollte es an jenem Abend so gerne richtig machen. Jedesmal, wenn ich ihre Schritte hörte, trat ich auf die Galerie hinaus und sah ihr aus dem verborgenen zu. Was sich später beim Dîner in Duvals Hotelsuite ereignete, muß sich während dieser Nachmittagsstunden in mir vorbereitet haben.
Maman, ich sehe dich in dem schwarzen Samtkleid, für das du dich schließlich entschieden hattest, am Tisch neben Duval sitzen, Vater und mir gegenüber. Du hattest nichts genommen, du wolltest nicht, daß wir uns deinetwegen genieren mußten. Deine Hand zitterte leicht, als Duval dir Feuer gab, und dicht unter dem Haaransatz hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Duval erzählte von seinen ersten Erfahrungen als Dirigent, und die Rede kam auf eine Ballettmusik, in der zwei Themen gleichzeitig entwickelt werden. Deine Augen begannen zu glänzen, du schienst um Jahre verjüngt.«Ja», sagtest du und unterbrachst Duval,«ich kenne die Musik und habe früher nach ihr getanzt. Die beiden Themen, sie laufen parallel, und dann auf einmal …»Ungeschickt schobst du die eine Hand in die andere, mit der du die Zigarette hieltest. Der angefangene Satz hing in der Luft, alle warteten, man hörte das knisternde Geräusch, als die Flamme einer Kerze flackerte und mit dem flüssigen Wachs in Berührung kam. Der Glanz in deinen Augen war einem Ausdruck der Panik und Hilflosigkeit gewichen. Einen Moment lang zögerte ich noch.« …und dann auf einmal verstrickt sich das eine Thema in das andere», sagte ich dann. Nie mehr hatte ich einen von deinen Sätzen vollenden wollen. Nie mehr. Und ganz besonders diesen nicht, denn er war einem der letzten Sätze aus penser pensées verwandt, einem der Sätze kurz vor dem Ende. Doch es war mir unmöglich, Maman, dich mit deiner Vergeßlichkeit, die sich von innen wie eine saugende Leere anfühlen mußte, allein zu lassen.
Es war unglaublich (und nur für mich zu deuten), was mit deinem Gesicht geschah, als du hörtest, wie ich den Satz mit s’empêtrer abschloß, einem Wort, das du liebtest und mich im Laufe unseres Spiels gelehrt hattest. Während Duval, dessen Blick
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