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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ausgestreckt sein würden, um Mamans Arm zu stützen. Doch zu meiner Verblüffung entdeckte ich, daß Maman hier den ausgestreckten rechten Arm mit ihrem eigenen linken Arm stützte. Ich vervollständigte ihr Gesicht. Die Augen waren unversehrt geblieben, das linke war für das Zielen zugekniffen, das rechte verlieh dem Gesicht durch seinen konzentrierten Ausdruck eine große Bestimmtheit, der zu ihrer selbständigen Schußhaltung paßte. Sie war, so sah es aus, eine Schützin, die sich einen Volltreffer zutraute. Maman gefiel mir. Sie stand auf sicheren Beinen, das Foto mußte aus der Zeit vor dem Unfall stammen. Sie schien voller Zukunft und Selbstvertrauen. Es lagen nicht mehr genügend Schnipsel auf dem Tisch, um GPs Kopf und die Brustpartie zu vervollständigen. Ich kehrte die Hosentasche nach außen und fand noch welche. GPs Augen hatten einen Riß abbekommen, und es blieb mir unklar, ob sein Blick auch ohne das so sonderbar gewesen wäre. Der Rest war leicht, ich brauchte mich nur an seinen Händen zu orientieren. Sie lagen fest auf Mamans Busen.
    An diesem Abend täuschte ich Appetitlosigkeit vor und blieb im Zimmer. Ab und zu holte ich das Foto aus der Schublade. Maman konnte schießen. Und GP hatte sie dabei auf eine Weise berührt, von der ich mit meinen neun Jahren noch nichts gehört hatte. Es waren viele Fragen, die mich bis in die Nacht hinein verfolgten und mich auch an den folgenden Tagen nicht in Ruhe ließen. Die meisten waren zu groß für mich, das spürte ich, und diese eine Sache konnte ich nicht wie sonst mit dir besprechen. Was GP getan hatte, war verwerflich, soviel war klar; deshalb das zerstörte Foto. War das der Grund, daß Maman nie, mit keinem Wort, von ihren Schießübungen erzählt hatte? Wenn sie aber, was damals gewesen war, insgesamt vergessen wollte - warum hatte sie die Fotos und insbesondere die Schnipsel aufbewahrt? Und wenn es so schlimm war - warum war es dann vor einer Kamera geschehen? So schlimm konnte es doch nicht sein, wenn man es sogar fotografieren ließ.
    Die Sache mit dem Fotografen, der alles gesehen haben mußte, beschäftigte mich lange. Schließlich ging ich in ein Fotogeschäft und fragte, ob man machen könne, daß die Kamera von selbst fotografiere, ohne einen Fotografen? Die Bedienung war gönnerhaft, wie sie Kindern gegenüber oft sind. Immerhin zeigte sie mir, wie ein Apparat mit Selbstauslöser funktionierte. Danach war ich sicher zu wissen, wie es mit jenem Foto gewesen war. Das löste nicht das Problem, warum GP von etwas Verbotenem ein Foto hatte haben wollen. Und wirklich vollkommen unverständlich war, warum Maman, wo sie das Foto doch mit einer derart verbissenen Wut zerrissen hatte, immer noch an jedem Mittwoch zu GP ging.
    Ob das, was GPs Hände an Maman getan hatten, mit dem zusammenhing, was Mamans Hände an mir getan hatten - diese Frage stellte ich mir damals natürlich noch nicht. Es war auch so schon alles verwirrend genug. Einige Zeit trug ich die ganzen Fragen wie eine große Last mit mir herum. Dann zogen wir nach Berlin, es war alles neu und Genf samt GP weit weg. Die Bilder und Fragen versanken.
    Die Erinnerung war (als ob sie sich für das lange Vergessen rächen wollte) von solcher Wucht und Lebendigkeit gewesen, daß sie in meinem übermüdeten Kopf die Gegenwart außer Kraft gesetzt hatte. Nur langsam fand ich zu mir selbst zurück und verstand, warum ich im Dunkeln auf meinem Bett saß. Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack. GP hatte Maman schießen gelehrt. Das hieß, daß sie es gut konnte. GP hatte dafür gesorgt, daß sie, wenn sie etwas konnte, es gut konnte. Sie hatte in allen Dingen seine Musterschülerin zu sein. Plötzlich war alles sonnenklar: Was Dupré erwogen und Doktor Rubin ausgeschlossen hatte, war nicht ein Gefängnisbesuch oder eine Vernehmung, wie du (zwar ohne wirkliche Überzeugung, aber ohne die Wahrheit zu ahnen) vermutet hattest. Es war um die Frage gegangen, ob es in Wirklichkeit Maman war, die den tödlichen Schuß abgegeben hatte. Der Anwalt und der Arzt, sie hatten es ganz nüchtern als eine Hypothese erwogen. Der eine hatte es für möglich gehalten, weil er Vaters Geständnis für falsch hielt. Der andere hatte sich nicht vorstellen können, daß eine Morphinistin mit zittrigen Händen über diese Distanz hinweg treffen könnte. Er kannte die Festigkeit nicht, zu der Maman bis zum Schluß fähig war, wenn es wirklich um etwas ging, eine Festigkeit, die, wenn sie

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