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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ein-, zweimal zwischen dir und mir hin- und herging, in seinem Bericht fortfuhr, überzog sich dein Gesicht mit einer flammenden Röte, die sich alle paar Sekunden mit dem fahlen Gelb abwechselte, von dem dein Gesicht in Zeiten, wo die Sucht dich zur Sklavin machte, gezeichnet war. Gedankenverloren spieltest du mit dem Dessertlöffel, während du zu verstehen suchtest, was es bedeutete, daß ich deinen Satz für dich zu Ende gebracht hatte. Du sahst mich nicht an, dein Blick war auf die kunstvoll arrangierte Mousse gerichtet. Auch ich sah auf meinen Teller und riskierte nur hin und wieder einen kurzen, verstohlenen Blick in deine Richtung. Etwas Neues schien begonnen zu haben, ohne daß wir hätten sagen können was. Als ich wieder einmal aufsah, hattest du Tränen in den Augen, und kurz danach erhobst du dich und verschwandest im Bad. Als du frisch geschminkt an den Tisch zurückkehrtest, sahst du mich lange an. Es war der Blick von jemandem, der hofft, daß ihm vergeben wurde, es jedoch noch nicht recht glauben kann. Als das Taxi vor unserem Haus hielt, stieg ich aus und hielt dir die Tür.« Merci», sagtest du leise.
    Von nun an half ich dir ab und zu, wenn du dich in deinen Sätzen verfingst. Aus dem verschämten, gefährlichen Spiel wurde eine nüchterne Hilfe für die zerstreute Süchtige. Bei solchen Gelegenheiten war es, als gingen wir zusammen über eine schmale, wacklige Brücke, die aus der gefährlichen Vergangenheit in eine Gegenwart führte, vor der wir uns nicht mehr zu fürchten brauchten. Es war nicht mehr nötig, daß wir uns aus dem Weg gingen. Einmal gelang uns sogar ein gemeinsames Lachen, das wir freilich unnatürlich früh abbrachen, weil wir nicht wußten, ob es zu uns paßte. Mit Geduld und Sorgfalt - habe ich oft gedacht - hätten sich die Dinge so entwickeln können, daß ich es später nicht nötig gehabt hätte, deine Briefe ungeöffnet wegzuschließen. Warum, Maman, mußtest du unser neues, zerbrechliches Vertrauen zerstören, indem du mit all deiner Kraft und Phantasie versuchtest, Patty und mich zu trennen?
    Jetzt war es soweit. Noch einmal würde ich als der kleine Junge in Mamans Zimmer gehen müssen. Ich wollte, daß die Erinnerung kam, und hoffte, sie würde versunken bleiben. Ich versuchte, mich von der Vergangenheit abzuwenden, meiner Müdigkeit nachzugeben und einzuschlafen. Es gelang nicht, die innere Uhr lief noch nach den Gesetzen chilenischer Zeit, und in Santiago war erst Mittag. Ich setzte mich auf. Wenn die Bilder aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortraten, wollte ich ihnen nicht liegend ausgeliefert sein.
    Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack. Ich rieb mir die übermüdeten, brennenden Augen. Als ich sie, wie zur Massage, einmal weit aufriß, fiel der Blick auf ein Buch im Regal, aus dem ein breites Lesezeichen herausragte. Manchmal kann es scheinen, als wüßten wir alles, bevor wir es wissen. Hastig, als hätte ich plötzlich mein Ziel gefunden, nahm ich das Buch und zog das Lesezeichen heraus. Es war jene Fotografie, die uns beide als Kinder im Matrosen-Look zeigt, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, um dem Betrachter wie ununterscheidbare Zwillinge zu erscheinen. So wie jetzt hatte ich noch nie ein Foto betrachtet. Mein Blick muß vollständig leer gewesen sein, denn es war, das spürte ich, nicht die festgehaltene Szene, die mir auf der Suche nach der fehlenden Erinnerung helfen würde. Bedeutsam war die Aufnahme einfach dadurch, daß sie eine Fotografie war. Ich fuhr mit der Hand über das glänzende Bild und wischte den Staub weg, als könne eine Magie der Berührung die verlorenen inneren Bilder herbeizaubern. Immer von neuem wischte ich darüber. Und dann, als habe jemand lautlos einen Vorhang zur Seite geschoben, sah ich die offene Schublade von Mamans Schminktisch vor mir.
    Es muß ein Mittwochnachmittag gewesen sein, denn während der Genfer Jahre war es immer Mittwoch, wenn Maman ausging, um sich mit GP im Geschäft an der Grand-Rue zu treffen. Der Nachmittag, an dem ich sie ins Gesicht geschlagen hatte, lag Wochen zurück. Die Tür zum Boudoir war nur angelehnt, als ich vorbeiging. Warum ich hineinging, kann ich nicht erklären. Der Raum wirkte fremd. Vielleicht war es nur, weil ich statt der Wandbeleuchtung den Kronleuchter mit dem kalten Licht angemacht hatte, das Maman nicht mochte. Vielleicht aber war die Fremdheit nichts anderes als Mamans Abwesenheit. Wenn sie da war, verwandelte sich das Zimmer mit den

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